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im, wenn man so sagen darf, bukolischen Zeitalter der Industrie. Pathe und Gaumont sind Marken von unbestrittener Weltgeltung, mehr noch, sie sind einfach zu allgemeinen Begriffen geworden. Kurz: es ist, wie man sieht, höchste Zeit, daß ein neuer Geschichtsabschnitt eintritt. Das geschieht mit dem Welt krieg. Am 1. August 1914 beginnt für den F ilm DAS MITTELALTER. Alle internationalen Bindungen sind verschüttet. Die Filmzentren der Welt machen sich unabhängig von Frankreich. Die Hegemonie ist gebrochen, der Kinematograph gehört jedermann und niemand. Die Amerikaner erobern den Kinematographen, sie adoptieren ihn, verbessern ihn technisch, kommerziell und schließlich sogar künstlerisch. Dies alles gelingt ihnen in der Folge bis zu einem solchen Grad, daß man in Versuchung gerät, zu vergessen, daß sie, wie so vieles, den Film gar nicht erfunden haben. Sie beginnen ihre Invasion in Frankreich, womit Pathe und Gaumont den Film strategisch verlieren. Von nun ab treten die beiden Häuser immer mehr in den Hintergrund. Der Qualität der Amerikaner wird — übrigens sehr oft heute noch — mit ironischem Achselzucken entgegengehalten, daß man ja den Film erfunden habe . . . Charakteristisch für die böse, dunkle Epoche ist, daß man den Propaganda wert des Films erkannt hat, was — im Krieg — kaum durch seine Qualität des Dokuments wettgemacht werden kann. Aber mitten in dieser furchtbaren Zeit des moralischen Niedergangs beginnt tief unten an der kalifornischen Küste ein neues Licht zu erstrahlen, das von einem begnadeten Menschenkind ausgeht. Es ist das Licht einer Auferstehung, der Absolution aller begangenen Sünden des Films und vielleicht aller, die er noch begehen wird, es ist: CHARLIE CHAPLIN ODER DIE RENAISSANCE DES KINOS. Rein kulturgeschichtlich gesehen, stellt Chaplin den vorläufig gelieferten Beweis für die Existenzberechtigung des Filmbetriebes überhaupt dar. (Der Satz ist auswendig zu lernen!) Die Kolonisierung Filmfrankreichs durch die Amerikaner während des Krieges und des übrigen Europa nach dem Krieg geht Hand in Hand mit einer künstlerischen Entwicklung des Films, die so mancher Kunstpapst hätte gern vor ausahnen wollen. Weder das künstlerische noch das industrielle Frankreich nimmt diese Entwicklung zur Kenntnis. Das Gros der Produktion unterscheidet sich von den Filmen der Vorkriegszeit nur durch Anpassung an das längere Programm. Vorhandene Talente stehen abseits, die Produktion wird auch quantitativ immer geringer, und Frankreich figuriert eine Zeitlang an letzter Stelle der Filmnationen. Ehrliche Versuche mißlingen früher oder später, weil die Entwicklung der anderen zu schnell gegangen ist. Die französische Avantgarde wird von der „pro minenten“ Industrie verachtet, lange wie ein Schandfleck verheimlicht. Man ist wirklich versucht zu glauben, daß eine Erfindernation kein Talent zur Organi sation hat, trotzdem der Augenschein lehrt, daß das französische Bürgertum seinen Vorkriegsgeschmack intakt bewahrt hat, und gerade der es ist, mit dem die neue Welt des Kinos nichts anzufangen weiß. Das Staunen der Franzosen ist groß, und auch ihr Gram darüber, wie schlecht eine Welt ist, die ihnen die Er findung des Kinematographen damit lohnt, daß sie von ihren Filmen nichts wissen will.. In dieser ausgehenden Epoche des Filmmiftelalters, die bei den ändern Völ kern bereits mehrere, distinkte Entwicklungsperioden gezeitigt hat, sind nur einige wenige internationale Leistungen des französischen Films zu nennen, oder viel-