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College Chaplin Von Adrian Wettach (Grock) D er Clown wird bezahlt, um der Menschheit das Lachen zu entlocken; der Exzentrik, die Geburt unseres, des Varietezeitalters, um das Lächeln hervorzuzaubern. Lächeln ist kostbarer, artistischer, weit schwerer zu erzwingen, weil es nicht mit dem drastischen Mittel der Komik, sondern mit einer gewissen Verinnerlichung, einer konzentrierteren Leistung erkämpft werden muß. Es ist lebendiger. Damit soll nicht gesagt sein, daß wir Clowns dem Bajazzoprinzip huldigen. Wir sind ernst, wenn es sich um unsere Arbeit, unsere Artistik handelt, wenn wir tagtäglich trainieren, den Körper stählen oder — wie in meinem Falle — die verschiedensten Instrumente meistern müssen. Alles Training, Übung. Wir sind auch ernst, wenn wir verliebt sind, aber das kommt ja so selten vor. Sonst sind wir Gaukler und werden uns immer bemühen, gute Artisten zu sein und zu bleiben, auch wenn wir uns schon zur Ruhe gesetzt haben. Dann arbeiten wir nicht mehr, um andere lächeln zu machen, sondern lächeln selbst. Ein wenig behaglich, ein wenig breit, sehr philiströs. Wir Artisten, von den Philistern als fahrende Gesellen angesehen, sind weit philiströser, weit bourgeoiser als sie selbst. Wir sind aber noch mehr: wir sind seriös! Das kann uns so leicht keiner nach machen 1 Vielleicht haben wir deswegen auch etwas erreicht. Mein einstiger Kollege Chaplin war anderer Ansicht. Wollen Sie diese Geschichte von mir hören? Ich war zweimal Zeuge, wie Chaplin lächelte. Das sind Ereignisse anderer Natur gewesen. Dafür liegen sie auch um zwanzig Jahre auseinander. Eine ge waltige Zeitspanne im Leben schaffender Menschen. Chaplin kann selten lachen oder lächeln, weil er immer an seine Arbeit denkt, immer mit seiner Arbeit beschäftigt ist. Er, der größte Exzentrik der Welt, ist halt seinem Stande treu geblieben, er war und ist Artist. Eigentlich wurde die Bekanntschaft von Chaplin und mir über seinen Bruder Sid in London geschlossen. Sid arbeitete damals in einer Pantomime von Fred Carno, Ein Abend iw Londoner Eingeltangel. Er spielte einen Betrunkenen, eine Rolle, die ihm und dem Namen Chaplin zu großem Erfolg verhalf. Sid Chaplin — ein Darsteller, der in seiner Art, in der Drastik seiner vis comica schöpferisch, original war. Einige Jahre später wurde ich nach Südamerika verschlagen. In einer Music-Hall gastierte das „Tingeltangel“. Unter den angekündigten Namen war auch Chaplin verzeichnet. Es ist etwas Seltsames um Artistenfreundschaften. Jahre vergehen oft, bis man sich in einem Engagement, einer Stadt, einem Lande wieder trifft. Jahre, in denen der Akteur des Zirkus, der Music-Hall, des Varietes um den Kosmos kreist, reist und dennoch immer mit dem Kollegen, dem Freund verbunden bleibt. Ich freute mich, Sid wiederzusehen, wieder einmal seinen Er zählungen zu lauschen, die immer auf seine Jugend, einem freudlosen Aufenthalt zwischen Armut und Elend, gelenkt wurden. Die Freizeit eines Artisten ist in Amerika sehr begrenzt. Ich eilte zu jener Music-Hall, fragte nach Chaplin. Da, sagte man mir, da steht er jal Ich stutzte; das war doch nicht Chaplin? Ein kleiner unscheinbarer Kerl, schmächtig, derangiert gekleidet? Der Kleine sah mich, eilte auf mich zu. „Grock“, rief er, „Grock? Mein Bruder hat mir ja soviel 3 29