Volltext Seite (XML)
Rhythmen, für gewisse dynamische Effekte, gewisse photographische Aus deutungen und Einstellungen an sich Sinn hat, mir einem Wort für all das, was den Hauptgewinn und das einzig wahre Verdienst des stummen Films ausmacht. Sobald man aber dieses verhältnismäßig beschränkte Gebiet der Reize des visuellen Rhythmus verlassen, sobald man den Stoff mit etwas Psychologie, etwas Analyse oder abgestuftem Gefühl ausstatten will, nur so viel wie unbedingt erforderlich ist, um die Fabel zu deuten, um ihr die Farbe und das Relief zu geben, das sie über das rohstoffliche Interesse hinaushebt, fällt man beim stummen Film un weigerlich in das unübersteigbare Problem zurück: Miniatur mit dickem Pinselt Der Autor stummer Filme sieht sich also vor folgendes Dilemma gestellt: Entweder richtige Kinostoffe zu behandeln, die sich für die geschäftliche Aus wertung in großem Stile nicht eignen, oder Dramen- und Romansujets zu nehmen, die das stumme Kino auf eine so kümmerliche Art und Weise be handelt, daß ein kindliches und zurückgebliebenes Spektakelstück entsteht, für das das große Publikum viel Duldsamkeit hat, ein wenig Mißachtung, aber ein immer mehr abnehmendes Interesse. In Amerika stand vor der Geburt des sprechenden Films die Krisis unmittelbar bevor: Das Publikum begann, sich der Kinotheater zu entwöhnen, obgleich man sich in sensationellen Schlagern und pompösen Inszenierungen überbot. Die Herstellungskosten wuchsen infolge dessen ins Ungeheure, die Einnahmen blieben in trauriger Weise stationär. Und was Europa betrifft: niemals ist es bisher noch gelungen, das große Publikum ins Kino zu bringen Zehn Prozent des französischen Publikums besucht die Kinotheater, 14 Prozent des englischen, 16 Prozent des deutschen Publikums. Die sehr große Majorität dieses Publikums setzt sich nur für einen ganz und gar exzeptionellen Film in Bewegung. Es besteht keinerlei Chance, diese Situation mit dem stummen Film zu ändern. Kaum darf man hoffen, den Status quo mühsam aufrecht zu erhalten. Und eine Industrie, die sich nicht entwickelt, ist gefährdet. Sollen wir den Tod des stummen Films beweinen . . .? Davon darf keine Rede sein, denn alle technischen und künstlerischen Errungenschaften des stummen Films bleiben erhalten. Die kinegraphische Bewegung, der visuelle Rhythmus, die optische Interpretation usw. usw. dienen auch dem tönenden Film. Dem kinegraphischen Rhythmus, der wesentlich bleibt, werden sich nun einfügen und verschmelzen die unzähligen Klangrhythmen der Musik und des Wortes; unendliche Vermählungen, die aus dem tönenden Kino einen vollständigen, unendlich reichen Ausdrucksmodus machen, ein Schauspiel mit zahlreicheren Möglichkeiten, als stummes Kino, Theater und music hall zusammengenommen. Bisher sind die meisten tönenden Filme nichts gewesen als schnell photo graphierte Theaterstücke. Ich sage: die meisten, denn wir haben schon sehr bemerkenswerte gesehen, die jede Begeisterung rechtfertigen. Aber der Erfolg der tönenden Stücke ist so groß, daß die Produzenten für einige Zeit gar keinen Grund haben, ihre bequeme Arbeitsweise zu ändern. Ein halbes oder vielleicht sogar ein dreiviertel Jahr lang werden wir noch die dramatischen oder musikali schen Komödien sehen, die in zwölf bis fünfzehn Tagen gedreht worden sind. Peinlich starre Aufnahmen, nachlässige und ungleichwertige Photographie, das Bestreben, die Zeit zu ersparen, die jede Rückung der Mikrophone für jede 25