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PORTUGIESISCHER BERICHT Von ANNEMARIE JAUSS N och von der Schule her haben wir von Spanien und Portugal ganz ähnliche Vorstellungen. Ist man aber einmal dort, so fallen die großen Unterschiede zwischen den beiden Ländern lebhaft ins Auge, und man sieht, daß die Grenze wesentlich und berechtigt ist. Schon die Sprachen der beiden Völker klingen ganz verschieden. Viele Worte sind zwar die gleichen, aber die portugiesische Aussprache ist viel weicher und mit vielen Sch- und Nasallauten. Die Spanier sind eine reinere und schönere Rasse, während die vielen portugiesischen Typen unmöglich unter einen Hut zu bringen sind. Man glaubt, alle südlichen und exotischen Rassen vereint zu sehen. Als seefahrendes Volk sind sie stark gemischt, zum Teil auch mit Indern. Denn im Gegensatz zu Spanien hat sich ja Portugal bis heute einen großen Teil seiner Kolonien erhalten können. Es kommt als Kolonialmacht an dritter Stelle nach England und Frankreich, und in den Zeitungen wird oft das Wort „Imperium portuguez“ gebraucht. Allerdings spielt ausländisches, vor allem englisches Kapital in den Kolonien, wie im Lande selbst, eine große Rolle. Seit 1910 ist Portugal Republik, und seit zwei Jahren hat es einen Diktator. (Den vorletzten, 1908 ermordeten König und den Kronprinzen kann man in Lissabon in einer Kirche neben anderen toten Königen besichtigen. Sie liegen in Glassärgen, ihre Uniformen sind verstaubt und verschimmelt, und die Gesichter sehen, da sie mangelhaft einbalsamiert worden sind, unsagbar unappetitlich aus.) In Portugal gibt es keine Todesstrafe, die Orden sind abgeschafft und es besteht Trennung von Kirche und Staat. Das spürt man z. B. an der geringen Sonntagsheiligung, besonders auf dem Lande. Der blaue Montag wird dafür um so genauer eingehalten. In größeren Dörfern sind zwar Kirchen, und viele Quintas (das sind Landgüter) haben ihre eigene Kapelle, die Sonntags mit einem winzigen Glöckchen läutet, aber die Läden sind geöffnet, es arbeitet, wer Lust hat, und man geht auch dementsprechend ganz beliebig angezogen. Die gute Kleidung ist, wie auch in Spanien, unbedingt schwarz. Hübsche Frauen gibt es vielleicht nicht so viele wie in Spanien, aber wie dort auch sind die jungen Mädchen besonders reizend, während die Frauen sehr schnell dick und schwer fällig werden. Die Kinder werden sehr geliebt und verwöhnt und sind aufgeputzt wie Puppen. Die gute Gesellschaft ist in Lissabon so gut wie unsichtbar. Die reichen Leute sind nur einen kleinen Teil des Jahres in der Stadt, sonst leben sie auf ihren Quintas (Portugal hat sehr viel Großgrundbesitz) oder in Paris, Biarritz und San Sebastian. Dort kaufen sie auch ein, und es gibt daher in Lissabon keine wirklich luxuriösen Geschäfte. (Die Pariser Modellkleider und Hüte, die es natürlich zu kaufen gibt, sind nicht in den Schaufenstern zu sehen.) Alle guten Sachen werden importiert. Im Lande selbst gibt es wenig Industrie, hauptsächlich Textil, Keramik und Kork, dessen Ausfuhr, roh und bearbeitet, eine große Rolle spielt. Die Handwerker sind unglaublich unzuverlässig, und es ist fast unmöglich, irgend etwas ordentlich gemacht zu bekommen. Alles geht nach dem Grundsatz: „pouco mais o menos“ („Etwas mehr oder weniger“). Ein anderes Sprichwort 445