Volltext Seite (XML)
BUDAPEST GESTERN UND HEUTE Von EUGEN LAZAR T~\ie von Berlin fünfzehn Schnellzugsstunden entfernt an der Grenze Mittel- A^europas und des Ostens gelegene Hauptstadt des königlosen Königreichs Ungam baut wieder: Hotels, Prunkbäder, Luftschlösser. Demnächst - um den November — wird es dort bewegt zugehen. Vor siebenundfünfzig Jahren wurde das noble Provinzstädtchen Buda mit der aufstrebenden Stadt Pest zu der Großstadt Budapest vereinigt. Die folgenden vierzig Jahre sahen ein Entwicklungstempo, wie es die Städte der amerikanischen ndustnegebiete kennen; für die Hauptstadt eines Agrarlandes war das etwas Ungewöhnliches und nicht ganz Natürliches. Ein halbes Jahrhundert Frieden aus der Großmachtpolitik einer um Freundschaft werbenden Dynastie gezogene Positionsvorteile, der frische Einsatz und das orientalische Gewährenlassen produktiver, wenn auch nicht ganz bodenständiger Temperamente stellten das Klima her, worin Gründungen und Bauten, Handel, Literatur und Theater, olksleben und gesellschaftliches Leben tropisch durcheinander wucherten. Das Budapest des Jahres 1913 hatte einen frühreifen Zug, es war kindlich und zynisch, unreif und schon ein wenig welk, kulturlos und schon überfeinert Es war eine merkwürdige, wunderschöne Stadt. Ihrer einzigen, märchenhaften Anlage rings um die Felsenhügel des Ofener Gebirges, zu beiden Seiten des breiten Stromes, in dessen Mitte die grüne, herbstrote oder schneeschimmernde Insel schwimmt, konnte keine barbarische Architektur etwas anhaben. Schön war die Stadt trotz sezessionistischem Baustil, der vom Millenniumsjahr an die ganze private und einen Teil der öffentlichen Bautätigkeit beherrschte. Wo sich die Gelegenheit bot, anständiges Bauen zu versäumen, wurde sie ergriffen. Wo es etwas zu verschandeln gab, wurde mit großem Geldaufwand verschandelt. Alles vergeblich, die Stadt war nicht zu verderben. Ungemein reizvoll, ein Gemisch aus prickelnder Herbe und süßlicher Fäule, aus Chicago, Paris, Kecskemet, Damaskus, sog sich das geistige Aroma von Budapest ein. Da kam frisch aus der ungarischen Provinz eine Jugend, die sich für Francis Jammes und Paul Claudel begeisterte, aber in Boulevardblätter Molnär-Croquis schrieb und den Abend bei Alsos, der ungarischen Form des Kiabrias, verbrachte. Ein Massenaufwand an Talenten, die das Kaffeehaus und die Zeitung auffraß. Aus Balzac-Stoffen wurden Novellettchen, die an eine der dreißig Zeitungen um vierzig bis sechzig Kronen verkauft wurden, aus Gesell schaftsdramen Bluette, die der Kabarettier Andreas Nagv, sechs Stück an einem Abend, aufführte. Es waren so viele da, und alle waren talentiert; sie schrieben die Zeitungen voll, sie schrieben den Kabaretts das Repertoire, schließlich, als es nicht mehr anders ging, weil nicht genug Zeitungen und Kabaretts da waren, schrieben sie sich ihre Romane und Theaterstücke selbst, statt sie aus dem Aus land zu beziehen. Es kam eine Zeit, wo in Budapest nur ungarische Autoren auf geführt wurden, und dann ein Augenblick, wo Budapest zu exportieren begann. Sie schrieben schließlich der Straße eine Sprache. Im letzten Friedensjahr sprach 428