Schäfer-Ast Sitten und Gebräuche der Stimmbildner Von Hans Heinrich Schmidt iese Schrift lehrt die Schaffung der Singstimme“ — so und nicht anders lautet der lapidrre Waschzettel, den ein schlesischer Gesangslehrer seinem Unterrichtsbuch umhängt. Und so möchten sie am liebsten alle von sich reden, die Herren Stimmbildner. Eine Aura der Unfehlbarkeit umschwebt sie, und wehe dem, der ungeschützt in ihren Kreis tritt! Er wird rettungslos ihr Opfer. Für dreißig Mark die „Lektion“ (eine Mark die Minute) sichere Hörigkeit und un sichere Opernkarriere, das ist so das Übliche. Jeder von diesen lieben Göttern hat das einzig mögliche System gepachtet, durch das man Singen und Sprechen lernt. Jeder ist auf mirakulöse Weise in den Besitz des Geheimnisses gelangt, das den alten Italienern die Hegemonie auf diesem Gebiete sicherte. Aber, merkwürdig genug: obgleich jeder von ihnen dir beweisen wird, es gäbe überhaupt nur eine einzige Art zu singen, wird er doch den Kollegen von nebenan — der natürlich dasselbe behauptet — als Ignoranten und Hochstapler abtun. „Der Meister.“ „Der Maestro.“ „Der unvergleichliche Lehrer.“ „Der Retter meiner Stimme.“ Das sind so die gebräuchlichsten Wendungen, mit denen die Opfer (und gelegentlichen Nutznießer) dieses Metiers, die Schüler nämlich, ihr Vorbild umgirren. Da sieht man sie klein und häßlich werden, die Jagos und Lohengrins, die Gildas und Ortruds, die Königinnen der Nacht und die Ochsen von Lerchenau! In der Antichambre, zehn Minuten vor der gestrengen Unterweisung, da fällt diese ganze lächerliche Maskerade von ihnen ab: die Sorge um den Applaus der Rivalen, die Angst um den Verlust des hohen C, der Ärger über die Arroganz des Kapellmeisters. Denn fünf Meter weiter, durch zwei Wände nur von ihnen