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Englische Anekdote Von Otto Stoessl E in Freund, den sein Beruf alljährlich oft und für lange nach England führt, sagt: „Eigentliche, sogenannte literarische Interessen sind bei den Engländern, soviel ich bemerkt habe, gewiß nicht allgemein und weniger ausgebreitet als bei uns. Ist das besser oder schlechter? Ich möchte schier glauben, daß das wahllose und gemischte Durcheinanderlesen und Bereden, unser wällischer Salat von sogenannter Bildung, nicht gerade das höchste Wünschbare bedeutet. Besser wäre mehr!" Der gute Durchschnittsengländer betreibt seinen Beruf, seine Geschäfte, er reist viel und verbringt seine Muße mit Sport. Gewiß gibt es auch literarische, künst< lerisch befaßte Gesellschaftskreise, aber, soviel ich weiß, sind das besondere Zirkel mit viel weniger Teilnehmern und viel stillerer Teilnahme als bei uns. Dafür hält sich aber bei den Engländern im wirklichen Leben, in der Auffassung und im Gefühl des einzelnen oft eine unwillkürliche schöne Gestaltung und Äußerung, als sei das Dasein selbst die bei weitem ausreichende künstlerische Urform, die so recht ausgeführt und wohl auch herzlich genossen wird. Diese Art von Verstand und Verständnis der Menschen, der Situationen, der eigentümlichen seelenhaften Züge, der Worte, der tief rührenden Augenblicke macht die Engländer wohl immer zu Leuten aus Shakespeares Reich, und als solche erkennen sie sich wieder. Damit haben sie, glaube ich, für die Dichtung genug und das Beste getan, mehr als durch Lesen und Gerede, sie schaffen die Vorbedingung einer besonderen Menschlichkeit und deren Bewußtsein, woraus dann die seltenen wahren Dichter ein englisches Ganzes ausheben mögen, das bereits geschaffen in der Natur vorliegt und jeden freundlich überrascht, der ihm in solchen Augenblicken inmitten des Alltags begegnet, welcher dort sachlicher, einfacher hingenommen wird als sonstwo. Ein solcher Fall war im Sommer 193° in den englischen Blättern zu lesen: Ein alter Landlord war gestorben. Er hatte mit einem alten Diener dreißig Jahre lang ein einsames flaus in der Grafschaft Sussex bewohnt, das inmitten von ^Viesen frei stand, also von 'Vind, Wetter und Kälte, im ^Vinter wohl von den unangeneh# men Feldmäusen heimgesucht wurde und auch sonst vor Gesindel, Bettlern ,Land> Streichern, Dieben etwa, nicht ganz sicher war. Der alte Landlord mochte darum, begreiflich genug, Besorgnis vor Einbrüchen, vor Feuersgefahr und einen beson< deren Abscheu vor dem Nagen und Rascheln und Geruch eingedrungener Mäuse gehabt haben. Deshalb mußte sein Diener jeden Abend die Runde um das Haus machen, alle Schutzvorkehrungen treffen, das Feuer im Kamin gründlich auslöschen und diese täglichen Dienstverpflichtungen seinem Herrn als genau erfüllt melden, der dann erst beruhigt vom Tische aufstand und schlafen ging. Diesem Landlord nun widmete dieser alte Diener zum Begräbnis einen Kranz mit folgender Inschrift auf der Schleife: Das Feuer ist erloschen, die Türen sind versperrt, die Fenster sind verriegelt, die ÄTausJallen sind aufgestellt, es kann keine Maus herein. Gute Macht, Sir John. 93