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Leben und Briefe des Josef Amadeus Schulze Von Philip Curtiss S chon in meinen Knabenjahren hatte ich den heimlichen Wunsch, Historiker zu werden. Mehr als das, ich wollte ein großer Historiker werden. Nicht, daß ich je ausgesprochen in dieser Richtung gearbeitet hätte. Ich bin nicht einmal sicher, ob Geschichte als solche mich jemals wirklich interessiert hat — es ist der meines "Wunsches im Wege gestanden hätte. Zu jener Zeit dürfte es eine ver gleichsweise einfache Sache gewesen sein, Geschichtsschreiber zu werden. Es genügte, die Ereignisse herauszugreifen, die eine bestimmte Person oder Periode betrafen, und sie oidnungsgemäß aneinanderzufügen, das heißt, mit dem Anfang anzufangen und mit dem Ende zu enden. Als ich die Universität verließ, entdeckte ich ein seltsames Phänomen, das mich damals in tiefe Bestürzung versetzte und seitdem dauernd beunruhigt. Ich entdeckte nämlich, daß heutzutage alle Menschen alles zu wissen scheinen und daß sie überdies ihr W issen nicht einem stumpfen Bücherstudium oder langweiligen Lehrkursen verdanken, vielmehr, daß es ihnen angeboren zu sein scheint oder daß sie es instinktmäßig erworben haben. Allem Anschein nach besitzen sie die Gabe, ihr Wissen auf irgendeine, bisher unauf geklärte, Weise der Luft zu entziehen. Denken Sie zum Beispiel an Madame de Stael. Ich glaube sagen zu können, daß ich zu jener Zeit über eine anständige Durchschnittsbildung verfügte, und mein tägliches Lesequantum übertraf das der meisten Menschen; trotzdem gelang es mir nicht, etwas Genaueres über Madame de Stael zu erfahren. Ich will offen gestehen, daß ich die längste Zeit geglaubt hatte, diese Dame habe, gemein sam mit Madame de Maintenon und Madame Dubarry, den Harem Ludwigs XIV. Stil der Geschichtsschreibung, der es mir angetan hat. Was manchen Menschen der Jazz und ändern Oratorienmusik, das ist mir die tönende Phraseologie der Geschichte. Statt in der geheiligten Einsamkeit des Badezimmers „Donna e mobile“ hinauszuschmettern, ertappte ich mich dabei, wie ich sinnlose Sätze vor mich hinmurmelte: „Während Claudius sich dem ausschweifenden Wohlleben des Siegers hingab, sam melten sich an den Ufern des Tajo feind liche Heere.“ Oder: „Dem Vorstoß der Whigs folgte alsbald ein Gegenstoß der Föderalisten.“ Herbert Landau Hätte ich zu Herodots oder Plutarchs Zeiten gelebt, ja wäre ich nur ein Zeit genosse Macaulays oder Rankes gewesen, ich wüßte nicht, was der Erfüllung