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ICH ERZIEHE MEINEN KÖRPER Von JEAN PR&VOST W as mich an den Freiübungen der schwedischen Gymnastik anzog, das war zunächst einmal die Einfachheit des Apparats und, vor allem, daß man dabei allein sein durfte. Als ich mit diesen Übungen begann, waren mir die wirk lichen Voraussetzungen von Schönheit und Kraft so unbekannt, daß ich mich beinahe nur an die Bewegungen der Beine und Arme hielt. Bald jedoch, als hätte diese Gymnastik meinem Körper erst das wahre Verständnis seiner selbst gegeben, räumte ich den Bewegungen des Rumpfes den ersten Platz ein. Es war fast ein Glück für mich, mit einem sehr ungelenken und sehr unentwickelten Körper zu diesen Übungen zu gelangen: außerstande, alle Übungen allsogleich im richtigen Umfange auszuführen, suchte ich doch mit jedem Tag den Winkel des Kreisbogens, den mein Körper beschrieb, zu vergrößern. (Denn alle diese Bewegungen scheinen die vollkommensten der Formen, den Kreis und die Kugel, nachzu ahmen und anzubeten.) So kam mir die Freude an der Leistung von allem Anfang an zugute. Dann, sowie die ersten Ergebnisse erreicht waren, verdoppelte ich meine peinliche Sorgfalt und den Eifer, es richtig zu machen. Ich hatte in mir jenen puritanischen Geist, jene Skrupulosität, jenes Pflichtgefühl entwickelt, die uns Bewegungen eingeben, geregelt und geheiligt wie Gebete, und die, gleich Ge beten, zu wirken aufhören, wenn der Gläubige in seinem Glauben lau wird. Ich staunte über die seltsame und anspruchsvolle Notwendigkeit, daß unsere Aufmerk samkeit keinen Moment nachlassen dürfe, weil sie, hat sie auch nur für einen Augenblick ausgesetzt, kaum und jedenfalls nur langsam und mit peinlicher An strengung wieder aufgenommen werden könnte. Unser Feuereifer muß eben von allem Anfang an und bis zum Ende immer höher brennen, sonst haben wir von der ganzen Übung bloß fruchtlose Langeweile. Darin liegt übrigens auch der Grund, der es beinahe unmöglich macht, schwe dische Gymnastik als Kollektivübung zu betreiben, oder ihre Bewegungen einem einzelnen Schüler zu kommandieren, oder ihn das, was man ihm Vormacht, wiederholen zu lassen; denn Eifer läßt sich nun einmal nicht kommandieren, nur Inbrunst kann bei diesen Übungen von Nutzen sein. Ich habe schließlich heraus gefunden, wie ich es am besten anzustellen habe: nachdem ich mich mit der Schilderung oder dem Bilde einer bestimmten Bewegung ganz erfüllt hatte, ver- jf) Georg Kolbe