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■V APROPOS TONFILM Von DARIUS MILHAUD 1927 hörte ich in New York zum erstenmal das Vitaphon, und von jenem Augenblids. an ahnte idi die ungeheuren Möglichkeiten dieser neuen Methode der Musikverwertung für das Kino. Es war ein schrecklich langer Film von Sydney- Chaplin. Die sinfonische Begleitung eines philharmonischen Orchesters über schwemmte die Ohren mit dichtem, etwas konfusem Getöne, einer Art Ton nebel, mit den besten Absichten, aber unklar und beunruhigend. Dann — wie zur Demonstration — hörte man einen Jazz, einen Sänger mit Klavierbegleitung, einen Zug schreiender Möwen, das Brummen eines Flugzeugmotors, ein buntes Tonquartett. Und dann kam die Sintflut der Tonfilme aller Arten, mit ihren Qualitäten, ihren Mängeln, ihren Gefahren, Aussichten und Fallen. Plötzlich gabs eine Lawine von primitiven Elementarverfahren. Wenn auf der Leinwand eine Uhr zu sehen ist, die auf 12 zeigt, werden zwölf Schläge synchronisiert, oder man produziert das Geräusch eines Autos, eines Zuges, eines Aeroplans, oder die Schreie einer erregten Menge. Wie schauderhaft! Oder man „profitiert“ von einem Schauspieler mit guter Stimme und sucht Vor wände, um ihn fortwährend singen zu lassen, eine Methode, die die Handlung unerträglich schwächt. Bei einer neuen Erfindung ist man immer geneigt, sich einer Täuschung hin zugeben. Das freudige Erstaunen über die Möglichkeit, einen Mann auf der Leinwand singen zu lassen, ist so groß, daß man sich nicht scheut, seine Kantilenen zu verschleudern, ebenso wie man vor dem Kriege die Filmschauspieler über triebene, erschütternde Bewegungen machen ließ, um deutlich darzutun, daß man die Bewegung zu photographieren verstand. Der Tonfilm steht erst am Anfang seiner Entwicklung, aber schon jetzt ist sein Verdienst erheblich. Was erreichte früher ein Komponist, der speziell für einen Film eine Partitur schrieb? Nur einige wenige große Kinos konnten sich ein Orchester leisten, das imstande war, sie aufzuführen, und später lief der Film in den Vorstadtkinos mit einer beliebigen Begleitung, und die Partitur ver schwand auf Nimmerwiedersehen. Dank dem Tonfilm wird nun die Partitur für immer festgehalten und folgt dem Film überallhin. Welche enorme Ver breitung für ein Werk, das zur Begleitung eines Films bestimmt ist! Vom Standpunkt der Folkloristik ist der Tonfilm unschätzbar. Man denke nur an die gräßliche Musik, die bei Vorführung eines Negertanzes oder irgend eines exotischen Landes gewöhnlich fabriziert wird! Wird es nicht ein Genuß sein, die authentische Musik zu den Tänzen zu hören, die die Leinwand uns schon seit langer Zeit enthüllt? — Für unser persönliches Vergnügen bliebe noch ein besonderer Wunsch übrig: es müßte einen kleinen, praktischen Apparat geben, mit dem man — zugleich mit einem kinematographischen Amateur apparat — die Stimmen unserer Freunde, das Kinderlachen und die Geräusche unserer Umgebung aufnehmen könnte. 562