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■V, BARCELONA Von WOLFGANG WEBER B arcelona ist nicht Großstadt. Es fehlt jede regelmäßige, bürgerliche Struktur. Barcelona ist Weltstadt, Weltstadt durch und durch. Keine abgeschlossen fertige, sicher erst eine werdende. Aber gerade dieses Werden legt Wesenszüge bloß, die sonst verdeckt blieben; zeigt die Unmittelbarkeit eines gigantischen Schaffensaktes, die Grausamkeit eines Fortschrittes, den wir schon deshalb nicht mit Amerika vergleichen können, weil Barcelona eine Tradition und eine traditions verankerte Indolenz brechen muß. Barcelona ist nicht eine spanische Stadt, sondern eine katalanische. Vier Säulen ragen vor der Weltausstellung über die Spitzen der Kirchtürme — das Symbol der vier Streifen katalanischen Blutes. Ihm verdankt Barcelona Dasein und Puls schlag. Der Katalane ist der nüchterne, der kaufmännisch denkende, der Amerikaner unter den Spaniern .. . wenn auch immer noch Spanier. So kommt es, daß zuweilen eine Summe von Verve, Ehrgeiz und Klugheit im einzelnen durch gefährliche Inkonsequenzen oder Rückfälle in die alte spanische Indolenz erstickt werden. Aber ein paar grobe Fehlspekulationen sind besser als lahmes Temperament oder Mangel an Ideen. Mit einer fast unvernünftigen Großzügigkeit, die in anderen Ländern längst von Kalkulationen und Bedenken gehemmt wäre, wird in Barcelona täglich Unerhörtes geschaffen. Und gerade dieser Schuß Unvernunft und Wagemut gibt der Stadt den Stempel des Außerordentlichen. Oder ist es für ein streng katholisches Land nicht eine Kühnheit sondergleichen, mit einem rücksichtslosen Durchbruch durch die Kirchen und Paläste der Altstadt dem Auto verkehr ein Ventil zum Flafen zu schaffen? Und sicher ist es eine nach unseren Begriffen kaum faßbare Weitsicht, unter einer neuerbauten Vorortstraße ohne Häuser bereits die Untergrundbahnanlage einzurichten, die man ja „eines Tages brauchen wird. Wie entsteht Barcelona? Ein Beispiel: Eine Hauptstraße der inneren Stadt wird in ihrer vollen Breite in unbewohntes Gebiet hinaus verlängert. Bis an die Stelle, an der sie unvermittelt gegen einen Acker abschließt, trägt sie tadellose Zementdecke, Straßenbahnschienen, sorgsam gepflegte Platanenbäumchen. Und an diese Straße baut man nun ein Haus, einen Palast mit zehn Stockwerken, einem Dutzend Läden im Erdgeschoß und allen Bequemlichkeiten. Ein Haus und eine Straße — das soll den Anreiz geben zum Weiterbauen, soll die Bewohner aus den schmutzigen Stadtteilen hierher locken, soll auch dazu beitragen, daß die Vorstadt einmal das gleiche Gesicht trägt wie die innere Stadt. „Im Anfang die Straße“, das kalifornische Gesetz auf europäischem Boden! In der inneren Stadt — gleiche Großzügigkeit. Die Neustadt ist in streng quadratische Blocks aufgeteilt, die aber nicht wie in Amerika von engen Straßen schächten durchfurcht, sondern von den über sechzig Meter breiten Platanenalleen parkartig umgeben sind. 536