nun gerade der einzige Gegenstand, von dem Sie als Hagestolz keine Ahnung haben. Und wenn Sie ver suchen wollen, sich da hineinzu mischen, so wird daraus nur eine liederliche, unheilige Messe!“ Die Priester Europas erheben mächtig ihre Stimme zu dem Thema: sex appeal. Mir würde es selbstverständlich nicht im Traum einfallen, die Oberpriester von Eu ropa anzurufen, aber wenn es eine Oberprostituierte von Europa gäbe — zu ihr ginge ich auf der Stelle und erklärte laut: „Seht her, diese Person beschäftigt sich professionell mit sex appeal. Sie verliert ihren Lebensunter halt, wenn ihre Methode falsch ist und sie die Kunst nicht wirklich be herrscht.“ Unglücklicherweise oder glück licherweise, wie man’s nimmt, gibt es so etwas wie eine Oberprostituierte nicht, und dies ist wahrscheinlich der Grund, warum man nach der An sicht des Priesters, nicht nach der der Prostituierten fragt. Daher schlage ich mich selbst als Nächstbesten nach der Prostituierten vor, d. h. natürlich mich, den Bühnenautor. Ich stehe in Opposition gegen zwei Sorten von Menschen. Die einen wollen den sex appeal durch ein Höchstquantum an Kleidung verringern, die ändern durch ein Mindestquantum steigern. Ich komme nun als Sachverständiger und erkläre, daß beide Parteien hoffnungslos falsche Methoden anwenden. Sie haben keine Ahnung von dem wahren Sachverhalt. Um den sex appeal bis zum Äußer sten zu steigern, gibt es nur einen Weg: durch Kleidung. Ich erinnere mich an das 19. Jahrhundert. Menschen, die sich dessen erinnern, sind jetzt verhältnismäßig rar. Aber mir steht es noch deutlich vor Augen, denn ich war wirklich in einem sehr eindrucksfähigen Alter. Als Künstler war ich be sonders empfänglich in Bezug auf Sexualität. Meine ersten Eindrücke stammen aus der victorianischen Zeit, die victorianische Frau war ein Meisterstück des sex appeal. Sie war sex appeal vom Scheitel bis zur Sohle. Zum Staunen war es, wie sie es machte. Natürlich bestand sie aus Kleidern vom Kopf bis zu den Zehen. Alles an ihr, außer Wangen und Nase, war ein gefährliches Geheimnis, das man Evamarie Schlenzig 761