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KAINZ UND KÖNIG LUDWIG Von SIEGFRIED LOEWY D en inneren Kainz, wenn er auch oft aus sich heraustrat, kannten nur wenige. Zu ihnen zählten in erster Linie sein ihm besonders ans Herz gewachsener Stiefsohn, den ihm Sara Hutzier mit in die Ehe gebracht hatte, ein Wiener und ein Berliner Schriftsteller. Von seiner Stieftochter Rosl nicht zu sprechen, der er der rührendste Vater war — sie hat selbst gelegentlich als Beweis seiner Fürsorge erzählt, daß, als sie die ersten Schritte auf der Bühne tat, und zwar als Käthchen von Heilbronn, er, im Gesicht unkenntlich gemacht, die Statistenrolle ihres Be gleiters übernahm, um sie so mit eigener Hand über das Glatteis der Bühne zu führen. Einst war’s auch mir beschieden, von diesem großen Menschendarsteller und Menschenkenner ins Vertrauen gezogen zu werden, hoch oben in Gießbach über dem Brienzer See, wo ich gemeinsam mit Josef und Grete Kainz eineUrlaubs- woche verbrachte. Das wundervolle Naturelement, das sich in den schäumenden Fällen des Gießbaches spiegelte, stimmte ihn feierlich, er sprach die Worte Lears auf der Heide, mit der Sturmglocke seines Organs und der Orkangewalt seiner oratorischen Kunst übertönte er das Sausen und Brausen des gefesselten Natur theaters, die Verse überstürzend wie ein Katarakt. Da war’s nun, daß seine Erinnerung zurückschweifte und die Blicke sich gen Süden wandten, dem Vierwaldstätter See zu und dem Weg, der auf den Rütli führt. Die gespenstige Nachtwanderung an der Seite des phantasieberauschten Bayernkönigs stand mit einemmal vor ihm da, und er begann zu erzählen, wie es damals zuging. Drei Stunden fast waren der König, Kainz und einige wohl- ausgewählte Begleiter „durch der Surennen furchtbares Gebirg“ geschritten, in finsterer Nacht, unheimlich erhellt durch Fackeln, deren Rauch und Ruß den Wanderern oft ins Gesicht schlug und der Stimme schadete. Doch der König achtete dessen nicht, dachte auch nicht an den schonungsbedürftigen Freund, an seinen „teuren Didier“, wie er ihn nicht allein in seinen schwungvollen Briefen, sondern auch in der persönlichen Anrede nannte. Auf sein Geheiß sprach, nur selten stehen bleibend, Kainz trotz der äußeren Hemmungen Verse aus „Wilhelm Teil“. Mit einemmal machte Kainz eine Pause. Die Pause wurde größer, müde und nervös atmete der Künstler auf und sagte dann ruhig zum König: „Majestät, ich kann nicht weiter! . . .“ Der König: „Wie das? Was soll das bedeuten? Ich, der ich Sie so sehr schätze, ich will es, und Sie werden meinem Willen, meiner Bitte, wenn Sie wollen, die Erfüllung nicht versagen!“ „Majestät, bitte um Verzeihung ■— ultra posse nemo tenetur“, erwiderte Kainz und machte eine tiefe Verbeugung. Der König, erpicht darauf, den Rüthschwur in der vom genius loci geheiligten Stille dieser Rüdinacht zu hören, stampfte mit dem Fuß auf, sagte kurz: „Nun dann adieu!“ und kehrte Kainz ungnädig den Rücken. 790