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LESVIEW, DER KÜNSTLER-VAGABUND enn jemand, aus Westeuropa kommend, eines der Museen „Russische Kunst“ in Moskau oder Leningrad besucht, ist er 2 unächst entsetzt über die Bedeutungslosigkeit des russischen Kunstschaffens während mehrerer Jahr hunderte. Nur in den Abteilungen, die der alten russischen Kirchenkunst ge widmet sind, atmet man auf: Hier war eine große Tradition am Werke. Jedoch alles, was seit etwa der Zeit Peters des Großen auf dem Gebiete der Malerei her vorgebracht wurde, entwickelte sich völlig unabhängig von dieser alten spezifisch russischen Kunsttradition. Wie die ganze städtische Kultur des nachpetrinischen Rußland sich nach dem europäischen Westen orientierte, geriet auch die bildende Kunst in fast völlige Abhängigkeit von den jeweiligen Stiländerungen europäi scher, insbesondere französischer und deutscher Kunst. Erst im Anfang des 20. Jahrhunderts, als das Interesse für die Primitiven und Exoten erwachte, wurde die alte russische Ikonenmalerei wieder entdeckt. Seit der Oktoberrevolution hat die Entdeckung der Ikonenmalerei große Fortschritte ge macht. Erst durch die Öffnung der Klöster und Kirchen sind zahllose herrliche Kunstwerke entdeckt worden; erst dadurch, daß den Bildern der Charakter des Heiligtums genommen wurde, war es möglich, mit den Mitteln der modernen Restaurationstechnik die Farbenpracht unter dem braun und grau gewordenen Firnis wieder hervorzubringen. Jedoch die Wiederaufnahme dieser alten Tradition der russischen Malerei kann nicht von Künstlern erwartet werden, die in der Tradition des kleinbürgerlichen Kunstbetriebs und der Befriedigung der Kunstbedürfnisse der kulturell reaktio nären Welt der russischen Kaufleute und Industriellen aufgewachsen sind. Nur der aus der Tiefe der Arbeiter- und Bauernmassen kommende, durch bürgerliche und kleinbürgerliche Kunsttraditionen unbeschwerte neue Künstler des Arbeiter und Bauernstaates kann es wagen, sich mutig und unvoreingenommen auf die großen Traditionen der alten russischen Kunst zu beziehen. Die neue soziale Funktion, die der bildenden Kunst im Lande der befreiten Arbeiter- und Bauern massen zufällt, verlangt einen neuen Stil: die Subtilitäten des Nachimpressionis mus werden sinnlos in den Zentren des neuen gesellschaftlichen Lebens der Arbeiter- und Bauernmassen, der Klubs, Versammlungshäuser, Teestuben und Lesehallen, in denen sich eine robuste, zur Aktivität und Monumentalität drän gende Masse bewegt. Im Kunstleben der Massen, vor allem der bäuerlichen, sind die alten Tradi tionen der russischen Kunst nicht abgerissen. Kirche, Hausaltar, Bilderbogen und Heimkunst — sie sprechen noch heute die Sprache der Ikonenmeister des 15. bis 17. Jahrhunderts. Kein Wunder, wenn der aus der Tiefe der Masse kommende neue Künstler von diesen Traditionen ausgeht. Von A. KURELLA 786