Ratinet war in Lyon geboren. Seine Eltern und Großeltern waren Franzosen. Aber Ratinet trieb einen wahren Kult mit Deutschland! Für den Kaiser empfand er eine unbegreifliche Verehrung. Wenn Ratinet vom „Kaiser“ sprach, standen ihm Tränen in den Augen. Ratinet bewunderte WilhelmII. in ebendem Maße wie die Engländer Napoleon. Durch welch seltsame Gewalt war sein Patriotismus davongeflogen und hatte sich auf der anderen Seite des Rheins niedergelassen? „Ihr seid im Niedergang begriffen“, sagte er. Ratinet sagte nicht „wir“. Er stellte sich außerhalb dieses angekündigten Nie dergangs und teilte, ohne sich davon Rechenschaft zu geben, den Patriotismus der Gegenseite. „Deutschland über alles!“ Deutschland ging ihm über alles. In der Wirtschaft, wo Ratinet aß, kannten ihn alle. Er arbeitete in einem Zeug haus. Die Arbeiter lachten und schrieben an die Mauer, an der sein Schlapphut hing: „Achtung, Vorsicht, die Ohren der Feinde hören euch!“ Ratinet verzog keine Miene. Es hinderte ihn nicht, auch fernerhin sein liebendes Vertrauen in das gegnerische Vaterland öffentlich zu bekunden. Er sagte: „Seht euch das Koppelschloß des deutschen Soldaten an und lest die Worte darauf: ,Gott mit uns!‘ ,Für Gott und den Kaiser!' Aber ihr? Was ist euer Ideal? Das Geld und der C . . .!“ Wahrhaft gerührt verkündete Ratinet, daß er nach dem Kriege „da drüben“ leben wolle. Das lag so außerhalb der gegebenen Verhältnisse, daß er für verrückt galt. Niemand nahm ihn ernst. Wenn er sagte: „Gott strafe England!“ — ant wortete man im Chorus: „Und die Schieber!“ Wenn der Heeresbericht ungünstig lautete? Wenn die Boches einen Graben zurückerobert und Gefangene gemacht hatten? Dann strahlte Ratinet und war während der ganzen Mahlzeit guter Laune. Ich befand mich in Puteaux zur kritischen Zeit der deutschen Offensive an der Somme und unserer vernichtenden Niederlage am Chemin-des-Dames. Auf Kai Gallieni begegnete ich Ratinet. Kaum hatte er mich erspäht, als er froh lockend auf mich zukam. Aus Vorsicht hatte die militärische Leitung alle Boote flußabwärts führen lassen. Und indem er mit der Hand auf die verödete Seine als einen unleugbaren Beweis unserer Niederlage wies, sagte er: „Man erwartet sie!“ * In den Fabriken ersetzten die Frauen tapfer die Männer. Es gab da eine junge Braune. Sie war dick und rund und nicht häßlich. Das vom Teufel besessene, besonders patriotische Weibsbild geriet bei dem geringsten friedliebenden Wort in wilden Zorn. Bei der leisesten Äußerung gegen den Krieg hieß sie einen sofort aufhören! Nein, im Gegenteil, nach Berlin, rauben, plün dern, niederbrennen und den kleinen Kindern der Boches die Hände abschneiden. . . . Zufällig las ich eines Tages auf einem Lohnzettel ihren Namen. Sie hieß Luise Herchsmeyer! Das Leben in Paris erstarrte im Kriege. Die sich selbst überlassenen Kinder trieben unerlaubten Handel. Sie strichen um die Bahnhöfe und erwarben von den englischen und amerikanischen Soldaten Zigaretten und Feuerzeuge, die sie mit einem kleinen Profit weiterverkauften. Bereits mit fünfzehn Jahren hatten die kleinen Kerle Einfälle und Allüren wie Bankleute und Wechselmakler. Die Väter 782