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Ich will gar kein Urteil darüber fällen, ob es wünschenswert ist, so zu leben wie im 19. Jahrhundert, wo die ganze Atmosphäre mit sex appeal gesättigt war, oder unter den gegenwärtigen Verhältnissen, wo die Frauen einen großen Schritt der Nacktheit nähergekommen sind und der sexappeal in erstaunlichem Maße ver schwunden ist, in einem Maße, das sich der Mensch des 19. Jahrhunderts kaum vorstellen kann. Es ist nicht meine Sache, festzustellen, welches die wünschens wertere Erscheinung ist, ich teile Ihnen nur die Ansicht eines Experten mit. Wenn Sie sex appeal wollen — Kleider! Wenn Sie den sex appeal loswerden wollen, werfen Sie soviel Kleider wie möglich ab. * * ■ * Ich hoffe, daß sich ein anderer Redner mit der politischen Wirkung beschäf tigen wird, die ich leider übergehen mußte. Auf folgendes müssen Sie sehr drin gend Ihr Augenmerk richten: Die moderne Demokratie ist mit dem Freiheits gedanken verbunden, weil sie gewisse Methoden politischer Unterdrückung ab geschafft hat. Da wir uns alle viel zu sehr von Gedankenassoziationen beein flussen lassen, neigen wir zu der Annahme, daß Freiheit auf einem Gebiet Freiheit auf allen Gebieten bedeutet. Machen Sie um GottesWillen nicht diesen Fehler in Bezug auf moderne Demo kratie und Volksregierung. Je mehr das Volk im großen und ganzen mit der Re gierung zu tun hat — ich spreche jetzt zu den Mitgliedern der Gesellschaft —, desto heftiger ist der Lebenskampf, d. h. der Kampf um unsere Ideale. Ich will Ihnen ganz kurz eine Anekdote erzählen, die diese Situation beleuchtet. Ein Freund von mir war der verstorbene Cecil Sharp, der unendlich viele Lieder gesammelt hat, speziell in Somersetshire, wo er damit begann. Es fing an im Pfarrhaus des Rev. C. L. Sarson, einem anderen alten Freund von mir. Beide sind nun schon tot. Eines Tages gingen sie im Garten spazieren, und innerhalb dieses Gartens befand sich ein abgeschlossener Obstgarten. Cecil Sharp hörte einen Mann jenseits der Mauer ein Lied singen, dessen Melodie ihm besonders schön erschien. Er schrieb es sofort nieder und fragte Sarson: „Wer ist der Mann, der da singt?“ — „Mein Gärtner“, war die Antwort. Sharp sagte: „Wir wollen zu ihm gehn und sehn, ob er noch mehr Lieder kennt.“ Mit der Begeisterung des Kunstliebhabers, der etwas Schönes entdeckt hat, ging er hinein, und sie erzählten dem Mann, daß sie ihn hätten singen hören. Der Mann warf seinen Spaten fort und rief Gott zum Zeugen an, daß er ein ehrenhafter, anständiger Mensch wäre, der noch nie in seinem Leben ein Lied gesungen hätte, und daß er sich solche Ausschweifung und Sünde nicht vorwerfen lassen könnte. Sie waren verwundert, weil sie — wie viele Leute unserer kultivierten Stände — nicht wußten, daß für die Maße des Volks Kunst und Schönheit nur Formen von Ausschweifung sind. Sie konnten den Gärtner nur mit größter Mühe davon überzeugen, daß sie beide genau solche Lumpen wären, bis er ihnen schließlich allerlei Interessantes über Lieder erzählte, und wo sie noch andere auftreiben könnten. Machen Sie sich nur einmal die Moral dieses Erlebnisses klar. Diesen Dingen muß man begegnen. Die große Masse hat •— weil sie in Unwissenheit aufgewach sen ist — keine Vorstellung von der Freiheit in dieser Richtung. Im Gegenteil, das Volk ist ihr wildester Feind, und Sie werden kämpfen müssen, nicht für eine 763