Volltext Seite (XML)
II. WINTERSCHAUER D iese Stutzuhr aus Meißner Porzellan, die nachgeht und dreizehn schlägt, unter ihren Blumen und ihren Göttern, wem hat sie gehört? Denke dir, daß sie auf langen Fahrten mit der Postkutsche ehemals aus Sachsen gekommen ist. (Seltsame Schatten hängen an den blinden Fensterscheiben.) Und dein Venezianerspiegel, tief wie eine kalte Quelle, in einem Ufer von entgoldeten Wappenschlangen, wer hat sich darin betrachtet? Oh, ich bin sicher, daß mehr als eine Frau in diesem Wasser die Sünde ihrer Schönheit gebadet hat; und vielleicht sähe ich eine nackte Erscheinung, wenn ich lange hineinblickte. — Böser, du sagst oft schlimme Dinge . . . (Ich sehe Spinnweben oben in den großen Fenstern.) Unsere Truhe ist auch sehr alt: sieh, wie dieses Feuer ihr trauriges Holz rötet; die verblichenen Vorhänge haben auch ihr Alter, wie die Be züge der ihres Glanzes beraubten Sessel, und die alten Stiche an den Wänden, und alle unsere altertümlichen Sachen. Scheint dir nicht auch, daß selbst die Bengali und der blaue Vogel mit der Zeit ihre Farbe ver loren haben? (Denke nicht der Spinnweben, die oben in den großen Fenstern zittern.) Du liebst dies alles, und darum kann ich bei dir leben. Hast du, meine Schwester mit dem Blick von ehemals, nicht gewünscht, daß in einem meiner Gedichte die Worte vorkämen: „der Reiz der verwelkten Dinge?“ Die neuen Gegenstände mißfallen dir; sie machen dir auch Angst mit ihrer schreienden Aufdringlichkeit, und du würdest das Bedürfnis in dir fühlen, sie abzunutzen, was sehr schwer ist für Leute, die die Bewegung nicht lieben. Komm, schließe deinen alten deutschen Almanach, worin du aufmerk sam liest, obwohl er vor mehr als hundert Jahren erschienen ist, und die Könige, die er angibt, alle tot sind; und auf den alten Teppich gelagert, den Kopf an deine barmherzigen Knie gelehnt und in dein blasses Kleid, o stilles Kind, werde ich stundenlang zu dir sprechen. Die Fehler sind nicht mehr, und die Straßen sind leer, ich werde dir von unseren Möbeln erzählen . . . Du bist zerstreut? (Diese Spinnweben beben oben in den hohen Fenstern.) Uebertragen von August Brücher. 27