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Das Cabaret Voltaire Von Richard Huelsenbeck. Wenn jemand in früheren Zeiten eine Religion gründete, zog er sich in eine Höhle zurück, aß wilden Honig, wusch sich nicht und wartete, bis die Erleuchtung über ihn kam. Als wir den Dadaismus im Cabaret Voltaire in Zürich gründeten, aßen wir die guten Steaks der Bollerei, oder wir betranken uns bei Baserba, und was die Erleuchtung angeht, so beschränkten wir uns auf die Illumination unserer Köpfe, die der spanische Wein machte. Wir waren die Propheten einer neuen Zeit. Tzara war ein erfinderischer Kopf, ein Vierteljahr ging er sichtlich gequält umher, abends erzählte er wehmütig von dem Burzuk, einem Tier in den Wäldern Rumäniens, das sich von den Genitalien der Wald arbeiter nährt. Aber als der Dadaismus kam, stellte er sein Bett nieder, legte die Melancholie ab, und aus den Klage liedern Jeremiä brach jenes dadaistische Gejodel, das später Paris revolutioniert hat. Als Ball und ich den Dadaismus entdeckten, waren wir uns unserer großen Mission bewußt. Ball hatte gerade einen Teller Nudelsuppe gegessen, und ich hatte gerade den letzten besoffenen Studenten aus dem Cabaret Voltaire geworfen, da sagte Ball: „Da ... da siehste, wo das hinführt!“ Während er sich an einer Nudel verschluckte, machte er mich auf eine Schramme an der Stirn aufmerksam, die mir der besoffene Student mit den Rapieren seiner unbeschnittenen Fingernägel versetzt hatte. In diesem Moment, dies war der historische Moment, lud mir das Geschick eine Verantwortung auf, die ich bis heute nicht abzuschütteln gewagt habe. Ich begriff den Dadaismus. Die Form einer Religion mit Hierarchie, gesellschaftlicher Ordnung, Priestern und Oberpriestern hat der Dadaismus erst später bekommen. Gleich nach seiner Gründung trat ich der dadaistischen Opposition bei, wir wollten gleiches dadaistisches Recht für alle, wir waren gegen das dadaistische Bonzentum und gegen den dadaistischen Kapitalismus. Mein Kampflied war ein nördafrikanisches Negerlied, das ich jeden Abend im Cabaret gegen ein bescheidenes Salär vortrug. Es lautet in deutscher Uebersetzung: „Wir wollen unsere Hammel über das Land treiben. Laßt uns der Hammel gedenken, ehe wir sterben. Wenn wir sterben, ist nur die große Trommel noch da. Umba! Umba! . . .“ Dazu schlug ich heftig auf eine Kesselpauke, die mir das Philharmonische Orchester in Zürich geliehen hatte. Es gab in Zürich einige deutsche Professoren, die dem Dadaismus als einer Zeiterscheinung gerecht zu werden suchten. Mit ihnen saßen wir bei Easerba 137