Volltext Seite (XML)
werden ; und gewiß, sie sah danach aus, als ob sie es könnte) mit blondem Haar und heißen Augen, die überschwengliche Fülle von Brust und Nacken ins rote Mieder geschnürt, um Hüften und Leib den gelbseidenen Rock. Aber auch noch andere Damen dieses Markusplatzes neben den geschilderten erregten die gerechte Bewunderung. Jene goldlockige Lavinia, jene schlanke und reizende junge Patrizierin von 1520 mit dem breiten Barett, dem gelb seidenen Mieder und Schleppgewand, jene riesenhaft in die Breite gegangene, antik drapierte, vollbärtige schöne Helena, deren Umfang noch weit über die Dimensionen des un- oder aufgeschnürten Fräulein Geistinger hinausgegangen sein dürfte; die sechs Fuß hoch gewachsene britische Amazone im untadligen Reitkostüm; und ein halbes Dutzend von vielversprechenden, kräftigen Land- ammen aus dem Schwarzwald. Einer derselben war sogar, auf Verwendung humaner oder kinderreicher und kinderfreundlicher Vereinsväter, ausnahmsweise die Vergünstigung geworden, ihren geliebten Säugling, welcher nicht bloß Zähne, sondern längst schon die dichtesten Haare über denselben bekommen hatte, sauber gewickelt in Steckkissen und Kinderwagen mitzubringen und über den Markusplatz zu karren. Die reinste künstlerische Befriedigung wurde dem dafür empfänglichen Auge aber zweifellos durch die große Zahl der allerschönsten und echtesten Figuren des Orients, wie der Jahrhunderte der Renaissance. Vollendeter Geschmack, praktisches Talent in der Herstellung und das zur Hand liegende, in den Ateliers reichlich zerstreute echte Material jeder Art hatten hier Erscheinungen entstehen lassen, bei deren Anblick nur der Gedanke des kurzen, höchstens zwölfstündigen Lebens einen wirklichen Schmerz in den Genuß über das, was sie dem künstlerisch gebildeten Sinn wie dem naivsten Auge boten, mischen mußte. Ich muß aber schweigen von einer Menge des Schildernswerten hier unten im Saal. Habe ich doch noch nichts von dem historischen Verlauf des eigent lichen Festspiels selbst, von der strikten Ausführung des reichsten Programms berichet. Es dauert wohl zwei Stunden, bis auf eine neue Ansprache des Dogen und nach seinem feierlichen Umzuge durch den Saal —- wobei er im Thronsessel hinter den voranschreitenden Wachskerzenträgern getragen ward — der Markus saal sich leert, der Karneval sich in den Vorsaal und den Tunnel flüchtet, um Raum zu geben für die Verwandlung der Szene in den Speisesaal für 600 hungrig gewordene Tafelgenossen. Unten ging die fröhliche Tollheit ihren Lauf, nur in noch lebhafterem Tempo, weiter. Der Leierkasten des Tingeltangel und der Zitherklang und der echteste Jodler der biederen spitzhütigen, kniehosigen, wadenstrümpfigen Söhne der „deutschen Berge“, des Menschenfressers Schauer ballade erklangen durch den heißen, von Menschen und Qualm erfüllten Raum. „Aujust“, der schreckliche und doch so kindlich fröhliche Sozialdemokrat, dei, so schien es, im Kampfe gegen die fluchwürdige Bourgeoisie und die Schergen ihrer Tyrannei ein halbes Auge, die Unterhälfte seiner Rockschöße, die Integrität seiner Bein- und Fußbekleidung eingebüßt und sein braves ehrliches Gesicht gleichzeitig mit der heiligen Farbe der Freiheit und mit dem Sechserchampagner des weißen Sklaven, dem Traubenblute Gilkas, höher koloriert hatte, wurde hier bald der allerdings ziemlich schwankende und oszillierende, glorreiche Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. In einem etwa 1 % Stunden währenden Zauberschlag war die Wandlung des Saales oben indes vollzogen, die Gigantentreppe verschwunden. An ihrer Stelle dort kündete ein verhüllender Vorhang die inzwischen errichtete Bühne für das 128