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PRIVATBIBLIOTHEK Von VICTOR MANHEIM ER V“ ^ en P ara doxien unserer Zeit gehört ein merkwürdiger Widerspruch („es lebt, denn es widerspricht sich,“ pflegte der alte Van Vischer zu sagen). Die Dichtung wird immer zerquälter, verkrampfter, immer unnotwendiger und unproduktiver, und in umgekehrtem Verhältnis zu diesem Niedergang des literarischen Niveaus steigt das Interesse für das Buch, und zwar vor allem für das alte Buch, dessen Reize immer stärker, namentlich auf die jungen Menschen unserer Zeit, wirken, so daß sich aus der kleinen Bibliophilensekte der vorigen Generation eine große und sich täglich noch vergrößernde Glau bensgemeinschaft entwickelt hat. Damit hängt zusammen, daß einigermaßen wichtige Privatbibliotheken nunmehr auch in Deutschland eine halböffentliche Angelegenheit geworden sind, und daß man für Büchersammlungen ein Inter esse zur Schau trägt, wie man es bis vor kurzem nur für Bildergalerien und Sammlungen kunstgewerblicher Dinge übrig hatte. Man kann ruhig sagen, eine große Privatbibliothek, die sich nicht etwa vor der Welt verschließt, hat einen unsichtbaren Stern im Bädeker der öffentlichen Meinung bekommen. Wie für alles im Leben, gibt es auch für die Besichtigung von Bibliotheken eine gewisse Technik, die den meisten Besuchern natürlich nicht geläufig ist. Die vielen Bücher machen sie daher leicht verlegen. Angesichts einer zunächst nur als solcher bestaunten Quantität versuchen sie, ihren etwas dumpfen Respekt durch Fragen, Interjektionen oder allgemeine Wendungen abzureagieren, sie möchten sich gegen einen Eindruck wehren, für dessen Bewältigung ihnen präzise Begriffe nicht zu Gebote stehen, um aus dem Chaos der Büchertitel einen geistigen Kosmos zu gestalten. Der Sammler beobachtet diese Besucher, sammelt ihre Aeußerungen und hat bald heraus, daß immer dieselben Fragen gestellt, immer dieselben Redensarten hervorgebracht werden, daß die unzähligen Individuen, die im Laufe der Jahrzehnte an seinen Bücherregalen vorbei defilieren, auf wenige Typen zu reduzieren sind. Die meisten fragen: „Haben Sie alle Bücher gelesen?“ Worauf ich mir angewöhnt habe, die Antwort zu geben: „Ebensowenig wie Sie das Kon versationslexikon durchgelesen haben.“ Der Zahlenamerikanismus regiert die Köpfe, und so lautet die zweite Frage zumeist: „Wieviel Bücher haben Sie nun eigentlich alles in allem?“ (Man läßt sich eine fünfstellige Zahl nennen und hatte natürlich mehr erwartet oder weniger.) Die Damen wünschen zu wissen, ob und von wem und wie gründlich Staub gewischt wird, die Naiven, ob ein Buch desto wertvoller wird, je zerfetzter und schmutziger es aussieht (sie haben zumeist eine alte Bibel, die sicher schon zweihundert Jahre alt und so defekt ist, daß sie einmal einen Buchhändler fragen werden, was er gutwillig dafür zahlen möchte). „Wo treiben Sie nur alle Ihre Bücher auf?“ Bei dieser Gelegenheit kommt es zu wichtigen Hinweisen auf die Existenz von Antiquaren, Katalogen und Versteigerungen. Die Geschäftsleute fragen, wenn auch meistens nur mit den Augen: „Was ist der ganze Kram wert?“ Eine gute Ablenkung von der Sache selbst bedeuten technische Fragen: „Von welcher Firma beziehen 124