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JAMES ENSOR Von ANDRÄ DE RIDDER T rotz eines Prestiges und eines Ruhmes, den ihm niemand mehr streitig zu machen wagt, ist Ensor der Einsamkeit treu geblieben. Das Meer ist für ihn immer noch der sichere Zufluchtsort, der es ihm während der bitteren Jahre des Verkanntwerdens und des Spottes war. Ensor ist jetzt 67 Jahre alt, die immer noch gesuchtesten seiner Bilder hat er im Alter von zwanzig Jahren (1880 bis 1881) geschaffen, aber erst seit ganz kurzer Zeit (1920 bis 1921) wird ihm in der belgischen Malerei der hervorragende Platz zuerkannt, den er darin einnimmt, nämlich den ersten. In der zeitgenössischen europäischen Malerei dagegen macht man ihm noch heute den Rang streitig, den er darin behaupten wird, sobald Kunstgeschichte einmal ohne Voreingenommenheit für eine Schule oder eine Nation geschrieben werden wird, ohne jene beschränkte und anmaßende Exklusivität, die die künstlerische Priorität dieser Epoche auf zwei oder drei große Nationen, hauptsächlich aber Frankreich, beschränkt. Von Bürgertum und Kritik dornengekrönt, flaggelliert und angespien, rief ihn fern von den ästhetischen Disputereien der Ozean, an dessen Ufer er viele Jahre lang sein unverstandenes Genie sich ausleben ließ. Hier hat er sich mit einem bitteren, aber substantiellen Tonikum genährt. Hier fand er Konzentration, Reinigung und Stärkung in einer köstlichen Einsamkeit, in der er ohne Hast und in völliger Unabhängigkeit arbeitete, in keiner Weise von Gewinnsucht ge trieben, sondern einzig beherrscht von seiner Hingegebenheit an die Kunst und seinem Kampfgeist. Hier hat er von jeher seine Ateliers über einem jener Strand magazine, das mit ausgefallenen Gegenständen: Muschelwerk, Permutter, Porzel lanen und Fayencen, getrockneten Fischen, Fischernetzen, Fähnchen und Eimern für Kinder, Schiffen usw. vollgepfropft ist. Der Laden gehörte früher seiner Mutter, die 1915 starb, und wird jetzt von einer alten Verwandten, wie es scheint höchst unwirtschaftlich, geführt, aber Ensor hängt an dem Muschelwerk und dem barocken Kram. Steigt man in seine Wohnung hinauf, so findet man darin eine Auswahl dieser Wunder aller Kontinente, Muschelwerk und speziell Masken, Marionetten, Fächer, alte Stoffe in zarten, verblichenen Farbtönen. Im An schauen dieser Dinge hat er einige der feinsten Nuancen und einige der seltensten Tönungen gefunden, mit denen er seine Bilder übersät hat: auf seinen Bildern läßt er uns, ohne Furcht, sich zu wiederholen, all diesen geliebten Kram finden, der die Schärfe der Ensorschen Analyse, die Klarheit seiner Intuition und seinen natürlichen Humor romantisch verklärt. Auch einige der närrischsten Typen, die er in seinen Radierungen, die übrigens nicht weniger bedeutend sind als seine Gemälde, festgehalten hat in Zügen, die eine grausame Wahrheitsliebe und einen stark lyrischen Humor offenbaren, sind ihm auf dem Deich oder am Strande im Sommer, im Gewimmel der Sommerfrischler oder Badenden begegnet. Der Ozean hat ihn gut versorgt. Man trifft Ensor gewöhnlich nicht im Kursaal. Sein Arbeitseifer hat ihn trotz seines vorgeschrittenen Alters noch nicht verlassen: am wohlsten fühlt er 115