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SERGEJ JESSENIN Von MAXIM GORKIJ*) 1906 oder 1907 auf Capri erzählte Stefan Sheromskij mir und dem bulgari schen Schriftsteller Pjetko Todorow die Geschichte von einem Knaben, einem Shmudinen oder Masuren, einem Bauernburschen, der auf irgendeine Art nach Krakau verschlagen war und sich in der Stadt verirrt hatte. Er irrte lange in den Straßen herum, ohne daß es ihm gelang, aufs freie Feld zu kommen, an das er gewöhnt war. Schließlich, als er fühlte, daß die Stadt ihn nicht freigeben wolle, fiel er auf die Knie nieder, betete und sprang von einer Brücke in die Weichsel hinab; er hoffte, der Fluß werde ihn in die ersehnte Weite tragen. Er sollte aber nicht ertrinken, er starb daran, daß er sich den Schädel zerschellte. Diese schlichte Erzählung erinnerte mich an den Tod Sergej Jessenins. Zum erstenmal sah ich Jessenin 1914, wo ich ihn irgendwo zusammen mit Kljujew tiaf. Er schien mir ein Knabe von fünfzehn bis siebzehn Jahren. Er war blond gelockt und hellhäutig, trug eine hellblaue Bluse, den ärmellosen Rock und bunteingefaßte Schaftstiefel und sah aus wie die von der Samokisch-Sudkowska gemalten Bojarenkinder, die alle das gleiche Gesicht haben. Es war Sommer, eine schwüle Nacht, und wir gingen zu dritt erst über die Bassejnaja, dann über die Simeonowskijbrücke, auf der wir stehen blieben und auf das schwarze Wasser hinabsahen. Ich erinnere mich nicht mehr, wovon wir sprachen. Wahr scheinlich vom Krieg, der schon begonnen hatte. Jessenin machte mir den etwas unklaren Eindruck eines bescheidenen und etwas unsicheren Knaben, der selbst fühlt, daß er nicht in das große Petersburg hineinpaßt. Solche blitzsauberen Jungen findet man in stillen Städten wie Kaluga, Orla, Rjasan, Simbirsk und Tambow. Dort sind sie Verkäufer in den Basaren, Tischlergesellen, Tänzer und Sänger in den Wirtshausorchestern, bestenfalls aber Kinder bescheidener Kaufleute aus dem Milieu, in dem die alte Frömmig keit noch gepflegt wird. Später, als ich seine kühnen, starken, ungewöhnlich seelenvollen Gedichte las, wollte ich nicht glauben, daß sie dieser ausgesprochen kitschig angezogene Knabe geschrieben haben könne, mit dem ich eines Nachts auf der Simeonowskij brücke gestanden und zugesehen hatte, wie er durch die Zähne den schwarzen Samt des zwischen Granitmauern dahinfließenden Stromes angespuckt hatte. Sechs oder sieben Jahre später sah ich Jessenin in Berlin in der Wohnung Alexander Nikolajewitsch Tolstojs. Von der blondlockigen Puppe waren nur die sehr leuchtenden Augen übriggeblieben, aber auch sie waren wie an einer zu grellen Sonne ausgebrannt. Ihr unruhiger Blick irrte mit sehr wechselndem Ausdruck über die Gesichter der Anwesenden, bald herausfordernd und ver ächtlich und plötzlich wieder unsicher, verwirrt und mißtrauisch. Mir schien, daß er im allgemeinen nicht menschenfreundlich gesinnt war, und man sah, daß er trank. Die Augenlider waren geschwollen, das Weiße in den Augen ein gefallen. die Haut seines Gesichtes und am Hals grau und verwelkt wie bei einem Menschen, der wenig in der frischen Luft ist und schlecht schläft. Und •) Copyright Malik-Verlag, Berlin.