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Stätte wie Locarno entscheiden sollte, als für eine Stadt, deren Herbst-, Winter- und Frühjahrsklima zu den rauhsten in Europa gezählt werden und deren Einwohner sich noch unwirscher und dem Völkerbund feindseliger zeigten; viertens, daß man doch um Gottes willen mit dem Status quo vorlieb nehmen möge, denn zwölf Millionen Mark seien kein Butterbrot, und es graue einem im voraus vor dem Ergebnis des geplanten Wettbewerbs unter den Herren Architekten aller Länder. Diese irische Weisheit wurde überhört, und der Sieger des Tages war der Anwalt des Projektes, nämlich der Vertreter von Liberia, Baron Lehmann, der nicht an der westafrikanischen Küste, sondern in Amsterdam geboren wurde und die dicksten Zigarren im ganzen Völkerbund zu rauchen und zu verschenken pflegt. Die wichtigsten strategi schen Punkte auf dem Genfer Schlachtterrain sind indessen nicht die offiziellen Gebäude, sondern die drei Hotels, in welchen sich die bekanntesten Staatsmänner gruppieren. Frü her gab es nur deren zwei, das Hotel des Bergues als fran zösisches und italienisches Hauptquartier und das Flotel Beaurivage mit Chamberlain und Benesch; dann stieg noch das Hotel Metropole zu be sonderer Bedeutung, als Strese- mann dort die schwarz-rot- goldene Fahne aufpflanzte. Was diese drei Hotels in der sessionslosen Zeit sind, weiß kein Mensch, außer den wenigen alten Damen, die immer noch Genf als Sommerfrische oder Winterkurort benutzen; wäh rend der Tagungen sind sie alle drei teuer und überfüllt. Im Hotel des Bergues ist immer was los, und die Jazzkapelle spielt nachmittags und abends für balkanische Diplomaten und Genfer Liebespärchen. Im Hotel Beaurivage, das ungefähr so lustig ist wie das preußische Herrenhaus, unterhalten sich gähnende Photographen mit gähnenden Geheimpolizisten. Das Hotel Metropole ist einfach, gemütlich und sympathisch wie Herr Stresemann selber, wenn er Zylinderhut, Gehrock und Beredsamkeit an den Haken hängt und in Hemdärmeln an seinem häßlichen ovalen Tisch sitzt, um eine schlechte Zigarre bei einem guten Glas Apollinaris zu rauchen. Die Genfer haben sich daran gewöhnt, ihn mit Vornamen zui nennen: „Voilä Tustav“. Francisca Stoecklin IOI