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KOMFORT DES VÖLKERBUNDES Von MARCEL RAY T m Londoner Claridge’s Hotel wird der Gast schon beim Betreten der Haus- -I- torschwelle höflichst dahin informiert, daß Schreibmaschinen in den Räumen dieses beklemmend vornehmen Hauses nicht geduldet werden. Im Genfer Hotel National, das zum vorläufigen „Palais des Nations“ ausgestattet wurde, klappert die Maschine in jedem Zimmer von neun Uhr früh bis spät in die Nachmittagsstunden. Die tadellos bestrumpften und beschuhten jungen Damen, denen man auf jedem Schritt in den Hallen und Korridoren begegnet, sind alle Stenotypistinnen, wenn sie es auch vorziehen, Völkerbundsekretärinnen genannt zu werden, und sie wandeln stolz im steten Bewußtsein, daß die Gagen, die sie beziehen, kaum weniger hoch sind als die Zimmerpreise, die von den Hotelgästen der vorwilsonschen Aera bezahlt wurden. Sonst hat es auch da mals nicht eleganter, nicht internationaler, nicht palacemäßiger ausgesehen, bis auf den Umstand, daß nun das Restaurant in den Keller verlegt wurde, weil die zwei früheren Prunkeßzimmer in einen Sommer- und in einen Winter sitzungssaal für den Völkerbundrat verwandelt werden mußten. Der Firma Karl Baedeker in Leipzig sei anheimgegeben, den Sommersitzungssaal mit einem Stern zu versehen, von dessen weißer Decke ein anonymer italienischer Dekorationsmaler Veilchen- und Fliedergewinde herabhängen ließ, die zum Schreien naturähnlich sind. Die „Assemblee“ oder jährliche Vollversammlung des Völkerbundes tagt bekanntlich im September auf dem ändern Seeufer im Reformationssaal, der, ungeachtet seines pietistisch klingenden Namens, zu anderen Zeiten Kinoauf führungen oder auch nur Spinnengewebe und Staub beherbergt. Als Strese- mann im letzten Sommer in Genf landete, ließ er gleich am ersten Abend den Wagen langsam um den Reformationssaal herumfahren und steuerte dann ins Hotel zurück. Dies zeugt von feinem Spürsinn und gesunder Urteilskraft. Der deutsche Außenminister hatte ganz richtig geahnt, daß es im Inneren dieses Friedenstempels nichts zu sehen gebe als gähnende Leere in trostlos braungetünchtem Brettergerüst. In drei, vier Jahren wird das neue „Palais des Nations“, dessen Baukosten auf etwa 12 Millionen Mark veranschlagt sind, das Sekretariat, den Rat und die Assemblee unter einem Dach vereinigen. Es ist leider nicht sicher, daß dieser Haufen kostspieliger Steine besser und ge schmackvoller aussehen wird als die alte Reformationsbaracke. Denkwürdig bleibt die Sitzung, in der der Antrag zum Neubau angenommen wurde. Gegen den Beschluß sprach mit Eifer und Witz der Vertreter des irischen Frei staates. Er setzte auseinander, erstens, daß der Völkerbund auf einer Insel seinen Sitz haben sollte, oder wenigstens in einem Seehafen, den die Delegierten anlaufen könnten, ohne fremdes Gebiet durchfahren zu müssen; zweitens, daß man im inneren Festland einer Stadt wie Wien den Vorzug geben müßte, wo man nur die Wahl hätte unter einem Dutzend schöner, leerer Paläste, die wahr scheinlich umsonst zu haben seien; drittens, und falls es nicht anderswo ginge als in der Schweiz, daß man sich doch eher für eine angenehme, geweihte