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Freude war tot in Nietzsche, soviel er auch nach lateinischer Leichtherzigkeit schrie. Eis war ihm noch sehr viel Wille geblieben: aber, es war einzig Wille zum Kampf, nicht Wille zum Leben. Der feine Künstler, der er war, ver brachte er sein Leben unter einem Albdruck und war, glaube ich, unfähig, aus seiner eigenen Verfälschungstheorie Nutzen zu ziehen. Schopenhauer war höchstwahrscheinlich ein weiserer Mann, der mit dem Leben besser fertig wurde als Nietzsche. Der Durchschnittsmensch andererseits gelangt nicht hinter die Fassung des Kampfes um das Dasein. Er hat keinen schöpferischen Ueberschuß. Seine Strategie ist ebensosehr Kriegszustand, wie es Nietzsches „Wille zur Macht“ war. Aber bei ihm ist es ein Defensivkrieg; er hat nur eine aggressive Schlau heit, aber nicht in dem heldenhaften, „gefährlichen“ Sinn, den Nietzsche wünscht. Er verfügt über seine Kräfte höchst vorsichtig und strategisch. Er ist von Natur aus, was man einen Pessimisten nennt. Er sieht nichts als Nieder lage im Sinne von Schrecken und Kampf. In diesem blutigen Kampf ist er entschlossen, mittendrin auszuharren und ihn dabei von sich fernzuhalten. Nach außen hin hat er wie Nietzsche eine mächtig entwickelte Verfälschungs theorie und einen „Willen zur Vorstellung“. Nur ist er (natürlich) viel erfolg reicher in ihrem Gebrauch, als Nietzsche es sein könnte. Er ist, kurz gesagt, das von Nietzsche so heftig verabscheute Geschöpf — der Zyniker, gegen den er so beredte Beleidigungen geschleudert hat. DAS K. K. BALLETTMÄDEL Von ANTON L ängere Zeit hindurch saß ich Abend für Abend in einem Wiener Barraum, der zugleich den Hintergrund einer Tanzbühne bildet; durch geschlossene Vorhänge und halbgeschlossene Portieren drang wie im Halbschlaf Fiedel summen, zugedecktes Musizieren, hie und da ein Paukentakt; da drinnen begab sich also Tolles; plötzlich wurden die Portieren aufgerissen, schwacher von Kellner- und Geschäftsführerhänden zeugender Beifall klippklappte nach, die Kapelle rührte voll Abschiedselan einen Tusch, und herein stürmten, zu Tod erhitzt, Hautdunst verbreitend und die Lungen ausatmend, ein bis drei Mädchen und eilten an ihren Nachfolgerinnen vorbei, die bereits unruhig und vom nächsten Musikstück gewiegt an der Tür Posto faßten, zu raschem Kostüm wechsel in die Garderobe. Die Kenner hier im kleinen Vorraum beurteilten die Leistungen, ohne sich ein einziges Mal deren Anblick zu vergönnen, danach, wie die Mädchen vorher und nachher aussahen. Sie konnten vorher noch so entzückend, durchprickelt und lausbübisch aufs Zeichen warten — kamen sie nachher statt süß zerpatscht und dennoch beintrocken, weich gewalkt, aber fidel gestimmt zurück, so war die Meinung gegen sie. Einmal standen drei an der Tür. Drei schneeweiße Huldinnen im weiten Spitzenflausch, drei buttermilde Gesichter. 96