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denjenigen stehen, für die sie bestimmt ist, hat gewöhnlich eine der Absicht ihres Verkünders entgegengesetzte Wirkung. Nietzsche war viel zu schlau, um nicht zu wissen, daß dies höchstwahrscheinlich das Schicksal seiner Botschaft werden würde: und, wie schon gesagt, diese Bewußtheit läßt sich überall in seinen Schriften beobachten. Man stelle sich einen Augenblick den durchschnittlichen Spaß-Sucher unserer kultivierten Schichten, wie er eine zahlreiche Klasse ausgezeichnet benannt, beim Lesen der obigen Stelle vor. Sie wären sehr ärgerlich, solange sie über „die Spaß-Sucher unserer kultivierten Schichten und ihre rohen, ver kommenen und trägen Vergnügungen“ lesen. Aber sie würden dann oben lesen, daß man nach einer Krankheit weitaus fähiger für eine „heitere Verfassung“ „böser“ und „kindischer“ „hundertmal verfeinerter ist als jemals vorher“. Ekstatisch und kindisch klatschen sie in ihre Hände. Hundertmal ver feinerter als je vorher! Man bedenke (also gab es soviel Raum zur Besse rung ?)! Zunächst wird jedes geschriebene Wort unvermeidlich und sofort auf sie selbst angewandt. Sie seien es, die krank gewesen sind: sie seien jetzt in der Heilung begriffen und sie fühlten so nichtsnutzig und teuflisch. Denn kommen sie nicht gerade in ein Sanatorium nach einem Nervenzusammenbruch, aus einer kosmetischen Operation oder hatten sie nicht vierzehn Tage lang an Hämorrhoiden gelitten? Ja, es war erstaunlich, wie wohl man sich nach einer Krankheit fühlt! Es hatte sich wirklich gelohnt, um sich jetzt so wohl zu fühlen. Nachdem sie sich nicht ohne einigen Kummer durch den Teil über die „reichen und herrschenden Klassen“ und ihre „rohen, liederlichen Vergnü gungen“ (und mit einem Seufzer über die „geistigen Flüssigkeiten“) hindurch gearbeitet haben, würden sie bei „wir Genesenden“ angekommen sein (und jetzt hätten sie „roh und liederlich“ schon vollkommen vergessen oder absor biert): „wir brauchen eine andere Kunst!“ („Wie wahr, wie göttlich wahr! Gerade so fühle ich!“ werden sie denken.) Dann kommen sie zu „neckisch, leicht, schmetterlingshaft, göttlich heiter“ usw. Hätte man eine bessere Be schreibung dessen, was sie liebten, woraus sie gemacht waren, finden können? Es war alles so wahr! Vor allem „eine Kunst für Künstler, nur für Künstler“! Waren sie nicht Künstler, war nicht Nero ein Künstler? Waren nicht alle Menschen der guten Gesellschaft (ausgenommen Frau X. und Herr Y. natür lich) Künstler? Man kann sich also leicht vorstellen, daß sie (an dieser Stelle durch den Besuch eines Freundes unterbrochen) hingingen und auf einmal noch „neckischer, leichter, schmetterlingshafter und noch mehr von göttlicher Heiterkeit erfüllt“ waren als je zuvor. Mit kleinen, sehnsüchtigen, ein wenig „traurig und verlorenen“ Blicken, die sie von Zeit zu Zeit warfen (um zu zeigen, daß es in Wirklichkeit eine Maske sei -—- die letzte Maske oder auch nur eine Kruste über plutonischem Feuer!). Nietzsche verwarf die Welt des positiven Wissens, die wesentlich eine Welt der Desillusion und des Pessimismus ist: und setzte dafür eine Welt 94