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sie meiden oder gar fliehen. Hofiert die Lüge, und ihr werdet die Wahrheit finden. Aber dies ist nur ein anderer und mehr oder weniger (wie es sich in der ,,Fröhlichen Wissenschaft“ darstellt) Bergsonscher Weg. Es erinnert dieses alles außerordentlich an Christi Heils- und Machtstrategie: „Wer sich selbst erniedrigt, soll erhöhet werden“ — „Die Letzten werden die Ersten sein“ und alle diese Lehren, die man Strategie der Demut nennen könnte. So ist Nietzsches „Fliehe die Wahrheit, und du wirst sie finden“ nur ein Strat- egem, das> man wörtlich ge nommen hat; aber die Stelle, die ich oben anführte, ist eine sehr dramatische Aufforde rung zu einer bestimmten Llaltung; nichtsdestoweniger ist sie, überflüssig es zu sagen, nur ein Rat für an dere und nicht für den Philo sophen selbst. Er hat für sich tief genug geschürft und anatomisiert, denn anders auf jeden Fall hätten seine Worte keinen Sinn. Nietzsche selbst war in der Tat, was Philosophie an geht, eine Art Christ. Unter dem Vorwand einer Lehre der Aristokratie (mit dem anziehenden und snobisti schen Etikett „Aristokratie“) machte er sich auf in die Landstraßen und die Seiten- gäßchen und versammelte um sich all die halbgebildeten, nichts weniger als aristo kratischen Studenten und kunstbeflissene Bevölkerung Europas. Da war kein Sohn eines kleinen Anwalts und keine Tochter eines kleinen Landwirts, die eine von ihren Eltern für sie bezahlte Schule besucht oder Malen oder Musik studiert hatten, die sich nicht wie Barone und Baronessen vorkamen. Wenige Jahre nach seinem dramati schen Abgang von der Bühne war er der populärste unter den Philosophen der neueren Zeit. Der Charakter seiner Aktion als Philosoph war der Christi hinsichtlich des religiösen Erbes der Juden nicht unähnlich. Beide öffneten sie weit die Tore Christus die des Heils, Nietzsche die der Wahrheit — für „Volk und Sünder“, für die „barbarischen“ Fremdlinge. O. Berger 91