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NIETZSCHE ALS POPULARPHILOSOPH Von WYNDHAM LEWIS*) enn wir die Popularisierungsversuche des 19. Jahrhunderts durchgehen, fällt uns sofort Friedrich Nietzsche als der Erztyp des Popularisierers auf. Sein spezielles System der Volkserziehung war unter allen das auf fallendste und gewiß das sonderbarste. Denn was er populär zu machen sich vorgenommen hatte, den Begriff von Aristokratie und Macht, war gewiß das Absurdeste, Alogischste und Wesenloseste, das er zu diesem Zweck hätte aus ersehen können. Nietzsches Leben fällt in den Beginn der Hochflut der literarischen Popularisierungen. Wollte man feststellen, durch welche elliptischen und sonderbaren Wege dieser glänzende Komödiant zu solchem Ende gelangt ist, dies wäre an und für sich ein interessantes Studium. Und eine Gesell schaft, die ein solches Vorgehen ermutigte, ist ohne Frage die geeignete Materie für ein erstklassiges Lustspiel. Wie dem auch sein mag, in einer Raserei poetischen Eifers demütigte er die ganze Welt einerseits und flehte sie andrerseits an, doch aristokratisch zu sein. Natürlich war man entzückt. Solche Schmeichelei war ihnen bei solch volkstümlichen Ereignissen noch nicht vorgekommen. Nietzsche, der zu einem polnischen Edelmann mit Berserkerwildheit im Auge erzogen worden war, verkündete die Geheimnisse der Welt und verkaufte kleine Flaschen, die mit blauer Tinte gefüllt waren, als Tropfen authentisch blauen Blutes an das entzückte Volk. Sie gingen, schluckten seine Verordnungen und fühlten sich beinahe sofort sehr adelig. Wenn wir ein paar Minuten lang die charakteristischen Denkphasen dieses großen Popularisierers ins Auge fassen, rühren wir an die Maschinerie des paradoxesten Systems des 19. Jahrhunderts. Der intellektuelle Opportunismus Nietzsches verband ihn dem Prag matismus der Psychologen und Philosophen, die unmittelbar auf ihn folgten. Das hohle, theatralische Mephistopheleslachen seiner „Fröhlichen Wissen schaft“ war in der Hauptsache gegen die „Wahrheit“ gerichtet. So sagt er zum Beispiel: „Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: o wie wir nun mehr lernen, gut zu vergessen, gut nicht- zu-wissen, als Künstler! Und was unsre Zukunft betrifft: man wird uns schwerlich wieder auf den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge finden, welche nachts Tempel un sicher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus alles, was mit guten Gründen verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen.“ Hier sieht man Nietzsche die Wahrheit nicht allein entschleiern, er ver sucht sogar, sie zu betäuben und zu vergewaltigen, nachdem er ihr auf „futuristische“ Weise ins Leben verholfen hat. Denn wenn seine Worte etwas zu bedeuten haben, so nur das, daß wir die Wahrheit suchen sollen, indem wir •) Auj „The Art of being Ruled“. Verlag Chatto & Windus, London, 1926. 90