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Am ersten Juli vorigen Jahres lernte ich dann meine jetzige Frau kennen. Sie kam gerade, als ich die Reeperbahn nach dem Millerntor zu bummelte, aus dem Kino. Ich hatte sie schon früher gesehen, als ich mal betteln war, und ich hatte von ihr ein Mittagessen erhalten. Wir gingen dann die Reeperbahn hin unter spazieren, sie als Dame, ich als Apache, und eigentlich schämte ich mich, wenn mir ein Bekannter zuwinkte. Ich fand bald Arbeit, und wir nahmen uns zusammen ein Zimmer, indem sie ihren Dienst aufgab. Ich verdiente gut, und wir verlebten schöne Tage. Da wurde ich im November mit noch 300 Arbeitern entlassen. Da ich keine neue Arbeit finden konnte, verkauften wir, was wir hatten, und machten uns auf nach Halle. In Aschersleben, beim Umsteigen, ließen wir unsern Korb einen Augenblick im Waggon zurück, und er wurde ge stohlen. In Halle nahm uns keiner von der Verwandtschaft auf, weil wir doch noch nicht verheiratet waren. Mit dem letzten Geld reisten wir nach Hannover, und da saßen wir nun fest, ohne Geld, ohne Obdach. Ich ging den ganzen Tag betteln, nur um unseren Hunger zu stillen, und da kam mir der Einfall, auf den Höfen zu singen. Aber schon auf dem ersten Hof kniff ich aus. Meine Stimme schien mir greulich zu klingen, und mir war, als ob sie mich aus allen Fenstern auslachten und anspuckten. Ich lief davon über die Straße weg in einen Haus flur, wo ich mich auf die Treppe setzte und mich richtig ausweinte. Dann ging ich mit neuem Mut auf den nächsten Hof. Ich hatte Glück! Im Zeitraum von drei bis vier Stunden hatte ich mir 3,60 Mark verdient. Ich war der seligste Mensch auf Erden, weil -wir schon so lange nichts Ordentliches gegessen hatten. Ich erzählte meiner Frau, wie ich das Geld verdient hatte, und fragte, ob sie das Herz habe, mitzusingen. Es ging ganz gut, und wir hatten am nächsten Tage 9 Mark. Nun fuhren wir nach Hildesheim, Goslar, Wernigerode, Halber stadt, Aschersleben, Bitterfeld, Wittenberg, Luckenwalde, überall auf den Höfen singend und in den Wartesälen übernachtend. Von da ging es nach Berlin, wo ich krank wurde, so daß wir ins Asyl wandern mußten. Anderen Tages brachte ich meine Frau bei einem einigermaßen anständigen Budiker unter und ging so lange auf die Höfe singen. Ich verdiente 2 bis 3 Mark, selten auch mal 4 Mark, die ich dann dem Budiker geben muß. Meine Frau saß, bis ich abends kam, hungrig in der Ecke, und dann wurde gegessen und ins Asyl getippelt. Da meine Frau mit den anderen Mädchen nicht mit machte, wollten diese sie mal verprügeln. Als sie mir es am anderen Morgen mitteilte, nahm ich sie von da an wieder mit mir. Weil wir aber doch ein Zimmer im voraus nicht bezahlen können, wohnen wir in einem Privathotel in einer Kammer, und tagsüber singen wir. Singen müssen wir jeden Tag und dürfen keinen Tag aussetzen, denn wir verdienen nicht mehr als 3,50 Mark, und die müssen wir haben. Da stehen wir dann und singen und singen, und inner lich möchten wir weinen, weil es einem so schlecht geht. Manche werfen ihre paar Pfennige herunter, manche aber hauen die Fenster zu und ärgern sich, daß sie in ihrer Ruhe gestört werden. Und wieder andere, die lachen uns aus, weil wir so abscheulich gröhlen. Wäre mein Arm lang genug, ich würde ihnen eins versetzen, daß ihnen das Lachen schnell vergehen würde! Wie lange werden wir wohl noch singen müssen? 89