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gerade an meinem Geburtstag, kam ich wieder heraus. Schon wollte ich mich freuen - aber da erfuhr ich, daß ich steckbrieflich verfolgt werde. Ich war vogelfrei, versuchte in Berlin unterzukommen, aber am i. August hatten sie mich schon, und im Januar wurde ich wegen Landfriedensbruchs, Körper verletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt zu neun Monaten ver knackt. Ganz glatt ging die Zeit nicht vorüber, namentlich als es Frühling wurde. Da bekam ich zweimal vierzehn Tage Einzelhaft wegen Störung des Gottesdienstes, und für einen Spaß, bei dem ein Aufseher ein Vergißmeinnicht- Auge abbekommen hatte, noch einmal vier Wochen. Als ich herauskam, ging ich nach Berlin zurück, und da ich keine Arbeit finden konnte, ging ich auf die Walze. Immer alleine, schnurstracks nach Westen. ' Erst nach Rathenow. Das Nest abgebettelt und abends in die Her berge. Da war ein Leben wie auf einer Versteigerung: Strümpfe, Schuhe, Hemden, Jacken, alles zu einem Spottpreis. Ich habe noch nie eine Herberge gesehen, wo so viel geramscht wird, wie in Rathenow. Dem Herbergsvater mußte man io Pfennige für sein Spülwasser von Kaffee zahlen und 50 Pfennige fürs Quartier, 10 Mann in einem Zimmer. Alle Neuangekommenen mußten sich auf Läuse untersuchen lassen. Da gab es einen besonderen Tarif: bei wem eine Laus gefunden wurde, der durfte noch schlafen, für 2 bis 3 mußte er 25 Pfennig nachzahlen, wer über 3 hatte, flog hinaus. Bis Hannover tippelte ich glücklich weiter, und von da nach Bremerhaven, Cuxhaven und zurück nach Bremen, dann über Osnabrück, Oldenburg bis zur holländischen Grenze. Hier lernte ich einen Kunden kennen, der die Pascher schliche kannte und mich mit hinübernahm. Nach zwei Nächten hatten wir’s geschafft, und beim Morgengrauen erreichten wir Hoggraven. Es war gegen 9 Uhr, als wir durch ein Dorf gingen, wo die Kinder gerade Pause hatten. Da mein Freund einen furchtbaren Haarpelz hatte, der ihm bis über den Jackett kragen hing, gröhlten die Göhren uns nach: „Dütschmann, Dütschmann!“ und schrien so lange, bis der Landgendarm aus der Kneipe kam. Gravitätisch auf seinem Rad sitzend, holte er uns ein, und ein paar Minuten später saßen wir in der Zelle. Aber es gab Tee, Weißbrot und Butter. Wir streckten uns lang aus, drehten uns mit Zeitungspapier aus Stummeln, die wir in der Tasche hatten, eine Zigarette und kamen uns vor wie Weltreisende im Schlafkupee. Per Schub ging’s dann wieder zurück nach Neuschanz, wo sie meinen Kollegen, der was ausgefressen hatte, zurückbehielten, während ich die gleiche Strecke zurück tippelte bis nach Bremen. Denn ich wollte unbedingt hinüber nach Amerika, und hier machte ich meinen ersten Versuch. Ein paar Tage trieb ich mich im Hafen herum, und als ich sah, daß die Stewards Wäsche an Bord brachten, nahm ich auch einen Stoß, trug ihn an Bord und legte ihn an Ort und Stelle. Dann suchte ich den Kohlenbunker und versteckte mich. Bei der Revision fanden mich die Zollbeamten. Ich wurde tüchtig durchgebläut, sonst nichts. $.ber Bremen gefiel mir nicht mehr, und ich ging nach Hamburg, welches ich nach acht Tagen erreichte. Dort logierte ich im Asyl, dem berüchtigten „Pik-As.“ Im Warteraum, der vollgepfropft war mit Menschen, ist die ganze Welt vertreten: Engländer, Amerikaner, Japaner, 86