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„Ueber dieses Thema habe ich nun zwei Sessionen hindurch mit Engels zungen zu Ihnen geredet. Es war vergebens, und da werden Sie wohl begreifen, daß.mir die Engelszungen nachgerade zum Halse heraushängen!“ Anmerkung der Red.: Den meisten hängt schon der ganze Reichstag zum Halse heraus. (Orig. Kölner Silvester-Ztg.) Was liest man so? Die weihnachtliche Pause läßt einen endlich wieder zu Büchern kommen. Nicht, um sie auszulesen. Wer tut das noch, außer den Zünf- tigen, es sei denn, es handle sich um einen Schlager. Auch auf diesem Gebiet der Bücher präsentiert sich gut und deutlich der Zustand zwischen den Zeiten. Im allgemeinen mag man z. B. einteilen in Ge schmus und Substantielles, in alten und neuen Stoff, alte und neue Form. Wichtig erscheint mir, weil selbstverständlich, die Einteilung zwischen Eigen besitz und Fremd. Was gleichbedeutend mit Mut und Feigheit, echt und unecht, Leben und Tod ist. Die Grenze ist immer vorhanden, wenn auch nicht immer deutlich. Aber so lange es einen Ehrgeiz gibt, der Literaten in Sphären treibt, die sie nicht beherrschen, wird es nie ein „reiner Genuß“. Selbst ein Mensch wie Paul Morand, der am liebsten die Welt umspannen und einzig und allein ein kühler Gentleman sein möchte, kommt einmal zu den Grenzen von sich selber. (Wie es sein „Buddha Vivant“ klar erweist.) Bei uns ist Weltanschauung noch immer das Klippengebiet. Es wird in den verschiedenen literarischen Küchen noch immer reichlich fett gekocht, mit Zutaten wie Mitleid, Masse, Kollektivgefühl und zu wenig Bedacht, daß das alles nichts hilft, wenn der Produzent auch nur dem leisesten Zwang von außen nachgibt. Hier ist eine sehr merkwürdige und man kann sagen durchaus einzige Erscheinung festzustellen: Arnold Zweig: „Streit um den Sergeanten Gxischa“. Die Leute, die Politik machen wollen, könnten sich aus diesem Buche ihre Rezepte holen, wenn es solche gäbe. Das ist endlich ein Buch, das selbstverständlich revolutionär wirkt, das nicht dauernd Schreckschüsse abgibt, brüllt und in Rot macht. Ueberzeugender kann der Stumpfsinn des Betriebes nicht geschildert werden, sachlicher nicht der Zustand, in den die Welt durch den Krieg kam, was ebenso schwer ist, wie es leicht ist, tendenziös zu bellen. Nur ganz selten stellt man einen fremd sentimentalen Ton fest, der den Figuren dieses Buches indessen nichts anhaben kann. Dies Buch, eines der ganz wenigen deutschen Bücher, die deutsch sind, hart und bewußt, ist außerdem ein Beweis, daß die Menschheit noch im Zusammen hang lesen kann. Das Buch vom Pere Kerr dagegen, mit dem wunderhübsch blumigen Titel, der von ihm selbst sein könnte, wird deshalb nicht lieber ge lesen, weil es bequemer zu lesen ist. Jeder Mensch weiß, Kerr möchte gern ein Dichter sein. Dies beharrliche Pochen auf diese Qualität erinnert mich an meinen Mitschüler Gustav Hirschfeld, den man auch nicht so recht zulassen wallte, und der mitten in der Festfreude eines Tanznachmittags, zu dem er nicht gebeten war, erschien und standhaft erklärte: „Ich will tanzen.“ Le Pere Kerr ist ein Dichter, und zwar ein wunderbar zusammenhang loser. Ueberall kriecht er herein in die Gegend und ist voll von Staunen 140