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CARL EINSTEINS „KUNST DES 20. JAHRHUNDERTS“*) Von H. V. WEDDERKOP N ur wer das Kunstdurcheinander der Zeit nach dem Absterben der großen Im pressionisten, das gigantische Chaos der Kunst, besser gesagt, des Kunstbetriebs, miterlebt hat, kann den Grad des Heroismus ermessen, der dazu gehört, in diese Weglosigkeit der letzten fünfzehn Jahre einzudringen, in die Richtungslosigkeit der Richtungen, die Unsicherheiten, die an sich schon jede Entwicklung in sich birgt, die noch nicht abgeschlossen ist. Das gebildete, an Kunst interessierte Deutschland der letzten fünfzehn Jahre schied sich deutlich in zwei Teile: den einen — Elite-Auguren —, der um die Dinge der neuen Kunst wußte und sie verkündete, den anderen, der mehr oder weniger ahnungsvoll vor einem Rätsel stand und unbedingt zur Lösung kommen wollte. Es war die große Zeit der Kunsttraktate, die in ununterbrochener Folge auf die Auf schluß Begehrenden niederhagelten, die große Zeit der Kunstkritiker, wohlgemerkt nicht der Kunsthistoriker, die mit ihrem Giorgione, Michel Angelo, Rembrandt, selbst Greco und anderem Plunder sehen konnten, wo sie blieben; der Kunstkritiker, die unter anderem den schönen Begriff des Kunstwollens schufen, wodurch sie ausdrücklich dokumentierten, daß es sich nicht um Können, sondern um bestgewollte Anstrengung, Zielstrebigkeit usw. handelte. Kaum war ein Rätsel gelöst, kaum war es einem besonders findigen Kopf gelungen, einen Stollen in ein kubistisches Berg werk vorzutragen, so taten sich von allen Seiten wieder neue Probleme auf, die das bißchen Klärung wieder verdunkelten und neuen Erklärern wieder Stoff und Existenzmöglichkeit boten. Tatsächlich war die Kunst längst auf ein Nebengleis abgeschoben, und die Kritik fuhr statt dessen auf den Hauptgleisen hin und her, natürlich — wie es sich versteht — ohne jemals zu einem Ziel zu kommen, das man auch nur als eine erste Etappe ansprechen konnte. Die verschiedenen Stationen, die immer wieder durchfahren wurden, waren Kosmos, Dämonie, das Irrationale, Ab straktion usw., während alles, was nach „Einfühlung“ aussah, als tödlich vermieden wurde. Auf Grund dieses Zustandes hätte man mit Fug und Recht eine Geschichte der Kunstkritik der letzten fünfzehn Jahre schreiben können, um somit den gesamten Unsinn zu kodifizieren und ihn damit zugleich zu krönen. Carl Einstein schrieb eine Geschichte der modernen Kunst. Man kann dies auf zwei Weisen tun, erstens, von einem ästhetischen Standpunkt, von einem gewissen bequemen, genießerischen, doch deshalb nicht weniger richtigen Standpunkt, zweitens, von einem wissenschaftlichen aus, unter der Fiktion, daß Kunsthistorie tatsächlich eine Wissenschaft und kein Widerspruch in sich ist. Einstein hat sich zu der letzten Methode entschlossen, die, wenngleich in ihren Ergebnissen nicht ungefährlich, dennoch die einzig anwendbare erscheint, weil sie nicht allein über Kunst, nicht allein über ästhetische Fragen Aufschluß gibt, sondern über den ganzen äußerst intrikaten und in seinen tausend Verästelungen höchst subtilen Komplex der ganzen Kultur dieser Zeit, soweit sie optisch orientiert ist. Sicher war nur der Abschluß des Impressionismus durch das Werk des alten, eifernden Greises, des Papa Cezanne, der durch seine Behauptung, in allen Dingen sei ') Im Propyläen-Verlag, Berlin