Volltext Seite (XML)
jetzt chronologisch. Zur zweiten und letzten Generalprobe kann man von einem fertigen Kleid auch nicht sprechen. Es stellen sich Mängel heraus, die bei Achtsamkeit zu vermeiden gewesen wären. Die Probe schließt abends um zwölf Uhr. Günstigenfalls. Am nächsten Tag, dem Tag der Premiere, wird das Kleid vom Atelier noch einmal geholt, um revidiert zu werden. Die Zeit ist knapp. Um zehn beiläufig wird es abgeholt, von zwölf bis drei ist Tischzeit der Direktrice. Was ohne deren Anwesenheit getan wird, ist sowieso für die Katz. Um sechs Uhr muß das Kleid zur Premiere zurück sein. Natürlich war die ganze Prozedur überflüssig, denn geschehen ist nichts; oder das Verkehrte. (Und ich spreche hier nur von einem Kleid. Meistens sind es aber drei bis fünf!) Die Schauspielerin konnte sich inzwischen selbst um die Details der passenden Kleidungsstücke bemühen. Hat sie sehr starke Nerven, so brachte sie fertig, sich einigermaßen zu komplettieren. Hat sie die Nerven nicht und läßt sie es gehen wie es geht, erlebt ihr am Abend der Premiere nicht nur ein zerflatterndes Bild, sondern auch oft — die logische Folge — eine zerflatternde Leistung. Wie soll eine Einheit entstehen, wenn die äußere Hülle unvollkommen wirkt? Aufs Publikum und, was noch schlimmer ist, auf die Künstlerin selbst? Sie fühlt sich „neu“, „fremd“, „unsicher“. (Oft nur im Unterbew'ußtsein.) An der edlen Linienführung einer Lina Lossen darf man sich nicht derart vergehen, daß man sie „dernier cri“ zu kleiden versucht. (Ich erinnere an Wildgans’ „Liebe“.) Man lerne von ihrem Aussehen in Klassikern und richte sich danach, wenn man ihr Gewänder macht. (Gewänder!!) Die Gläßner hat noch nie eine so perfekte Einheit des Aeußern verkörpert wie im zweiten Akt von „Kopf oder Schrift“ im Komödienhaus. Wer es sah, weiß, was ich meine. Nicht die „Aufmachung“, das „Große“ macht es, sondern das Hineinpassen. So sieht das Auge die kleine rumänische Bohemienne, mit Jumperkleid, Samtmantel und Kappe. Mit halbneuen Schuhen. Dabei aber fesch und kein Schlampen. Und die Franzi der Dorsch im zweiten Akt des „Walzer traum“ sieht akkurat so aus, wie ein Wiener Mädel nur ausschauen kann! — Abgestimmt bis ins kleinste! Ich versprach, Namen zu nennen. Solcher, die heute Vorbildliches in der Einheit leisten. Fritzi Massary. Faszinierend bestaunter Komet. Mit hörbar ruckartigem Schmiß der Operngläser an die Augen begrüßt. (Ohne das verheerende „süß“.) Bei ihr paßt — o Wunder — auch die Haarumrahmung sich dem Gesicht an; dem Charakter der Rolle. Und — der Wunder größtes — sie trägt Schuhe, die passen zu ihr und dem Kleid. Die Menge staunt. Sie sollte bejahen. So wie die Einheit einer Tilla Durieux, Mady Christians, Else Eckersberg, Elisabeth Bergner. Betrachten Sie eine Frau, die, gleich Ihnen einem Vortrag zuhörend, im Kurhaussaal eines Badeortes in Ihrer Nähe sitzt. Die Frau sieht reizend aus. Der Vortragende bittet eine Anzahl Leute auf das Podium. Nicht nur Ihre charmante Nachbarin versagt „oben“ gänzlich. Sie empfinden beinahe Scham, sie als reizend bezeichnet zu haben. Verzweifelt suchen Ihre Blicke unter fünfzig „wohlaussehenden“ Menschen dort oben (plötzlich wider eigentliches