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FILMKRONIK DIE PRODUKTIONSKRISE DES DEUTSCHEN FILMS Die Tonfilmfrage hat in der deutschen Filmproduktion eine Krise allererster Ordnung hervorgerufen. Die Nachrichten, daß im Auslande — vor Allem in Amerika — schon seit Monaten umfangreiche Tonfilmwerke produziert und angeblich mit ungewöhn lichem Erfolge aufgeführt werden, sind über Tag zu den deutschen Filmproduzenten gedrungen, deren Mehrzahl sich überrascht und fassungslos neuen Tatsachen gegen übergestellt sah. Daß diese Situation überhaupt entstehen konnte, muß umso unver ständlicher erscheinen, als die Filmproduktion durch ihre maßgebenden Persönlich keiten immer wieder mitteilen läßt, sie müsse sich durchaus als Industrie betrachten und könne ausschließlich nach industriellen Grundsätzen arbeiten. Immerhin gibt es für die Vorgänge eine vom industriellen Standpunkt aus vielleicht zureichende Er klärung: Die allgemeine Aufmerksamkeit der Produzenten und des Publikums in Deutschland wurden auf den Tonfilm hingelenkt, als maßgebende Unternehmungen, die verschiedenartige Apparaturen zur Tonfilmerzeugung und Tonfilmwiedergabe herausgebracht haben, sich nach Beilegung ihrer Konkurrenz- und Patentstreitig keiten zu einem machtvollen Syndikat zusammengeschlossen hatten. Vom künst lerischen Standpunkt aus ist es dagegen unbegreiflich, daß die gesamte Produktion offenbar der bequemen Anschauung huldigte, es könne in den ausgefahrenen Gleisen im selben Trott weitergehen. Mag man den Tonfilm künstlerisch als Fortentwick lung begrüßen oder als Verirrung ablehnen— Sache einer verantwortungsbewußten Produktionsleitung wäre es auf alle Fälle gewesen, sich über seine künstlerischen Vorzüge und Nachteile rechtzeitig zu unterrichten, anstatt sich durch die Nachricht von Neuerungen, um deren filmkünstlerische Auswertung man anderwärts schon seit Langem bemüht ist, eines Tages überrumpeln zu lassen und damit das gesamte lilin- schaffen für das kommende Spieljahr schwersten Erschütterungen auszusetzen. Während sonst gerade die Monate April bis August durch angespannteste Arbeit ge kennzeichnet sind, stehen in diesem Jahre bis jetzt sehr viele Ateliers leer. Künst lerische und technische Arbeiter des Films feiern wider Willen. Nur einige Großfilme, schon früher begonnen, w erden fertiggestellt, daneben ein paar belanglose Kleinigkeiten, — im Übrigen herrscht Friedhofsstille. Tonfilme kann man nicht produzieren; — es fehlt an technischem Gerät, es fehlt an künstlerischen Kenntnissen und Erfahrungen; umso mehr scheut man die ungeheuer hohen Kosten. Stumme Filme aber verhindert die Angst, daß Niemand sie im kommenden Winter mehr sehen will; — eine abwegige Annahme, die nur erneut die erstaunliche Instinktlosigkeit bei den Chefs des deutschen Films erkennen läßt. Denn abgesehen davon, daß der stumme Film als besondere Kunstform mit stärksten Ausdrucksmöglichkeiten immer neben allen Tonfilmen be stehen kann, sofern er nur gut ist, — auch vom wdrtschaftlich-industriellen Standpunkt aus — ist das Kalkül falsch. Mit Recht hat Ludwig Scheer, der Vorsitzende des „Reichsverbandes Deutscher Lichtspielteaterbesitzer“, darauf hingewiesen, daß technische und finanzielle Gründe der Entwicklung des Tonfilms in Deutschland außer ordentlich hinderlich sind: bis zur kommenden Saison könnten kaum 10°/ 0 der deut schen Lichtspielteater die kostspieligen, neuen Apparaturen zur Tonfilmwdedergabe erwerben, und wie sollen die 350—400 großen Hauptfilme, die in Deutschland eine Spielzeit benötigt, über Tag als Tonfilme hergestellt w’erden? Eine umfangreiche