Volltext Seite (XML)
FRITZ STERNBERG KRISENTEORIE, STATISTIK UND KLASSENKAMPF Den wissenschaftlichen Sozialismus, den Marxismus, trennt von der bürgerlichen Ökonomie, daß für ihn die kapitalistische Produktionsweise keine ewige, keine natür liche Kategorie ist, sondern eine historische, eine Produktionsweise, die heute zum Untergang bestimmt ist. Im Schoße der kapitalistischen Produktionsweise nehmen ihre Widersprüche immer gigantischere Dimensionen an, bis sie schließlich gesprengt wird. Die kapitalistische Produktionsweise schafft sich ihren eigenen Totengräber; der deutlichste Ausdruck der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise ist die Krise, die gleichzeitig die disparaten Elemente wieder zusammenschweißt. Je mehr sich die kapitalistische Produktionsweise ihrem Untergang nähert, mit desto stärkerer Wucht erschüttert die Krise das gesamte System. Es ist daher kein Zufall, daß die Analyse der Krise im Mittelpunkt des Marxschen Systems wie überhaupt des revolutionären Marxismus steht, wie es auf der anderen Seite kein Zufall ist, daß sich die bürgerliche Teorie um die Analyse der Krise möglichst zu drücken sucht, ln der Epoche bis zum Krieg war Dies noch ohne allzu große Schwierigkeiten möglich, die Konjunktur dauerte acht bis zehn Jahre, die Krise unterbrach nur für kurze Zeit die „normale“ Entwicklung. Also suchte man sie durch allerlei Faktoren zu erklären. Faktoren, die das Eine gemeinsam hatten, daß sie innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise zu beseitigen waren. Aber die Krise nimmt heute an Wucht nicht ab, im Gegenteil, sie verschärft sich, vor Allem in den hochkapitalistischen Ländern Europas. In England ist sie seit 1921 schon fast kronisch. in Deutschland haben wir seit 1923 Krise und Konjunktur in schnellem Wechsel, und die Konjunktur dauert heute nur so viele Monate, wie sie in der Vorkriegszeit Jahre dauerte. Die bürgerliche Wissen schaft muß zur Krise Stellung nehmen. Sie muß es, sie wird von den Tatsachen dazu gezwungen, Tatsachen sind ein hartnäckiges Ding, wie Marx mit Recht sagt. Sie wird durch die Tatsachen zur Stellung gezwungen und darf gleichzeitig nicht Stellung nehmen; sie darf die tiefsten Ursachen der Krise nicht berühren, denn sie beruhen auf der Ausbeutung, auf der Klassenschichtung. Was tun? Dafür gibt uns das Buch des Präsidenten des Statistischen Reichsamtes und gleichzeitig Direktors des Instituts für Konjunkturforschung, des Herrn Prof. Wagemann, ein famoses Rezept. In Herrn agemanns Konjunkturlehre*) heißt es im ersten Kapitel (die Entstehung der mo dernen Konjunkturlehre) über die sozialistische Teorie: „Die einen sehen sie (die Entstehung der Krise) in einer zu großen Kapitalanhäufung im Verhältnis zum Einkommen (Malthus), andere in einer falschen Einkommen verteilung (Owen, Sismondi, Rodbertus), Marx in einem aus dem kapitalistischen System erwachsenden Mißverhältnis der Produktionsfaktoren zueinander, und zwar in einem übermäßigen Wachstum des konstanten Kapitals.“ Das ist die einzige Stelle in dem ganzen Buch, in dem es Professor Wagemann für not- *) Konjunkturlehre, eine Grundlage zur Lehre vom Rytmus der Wirtschaft. 1928. Großoktav. XVI, 301 Seiten mit zahlreichen Schaubildern. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin SW 61.