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dieser auch auf das Spiel überträgt. Ein ähnlicher Geist der Gemeinschaft herrscht auch in den übrigen Avantgarde-Truppen. Sie bilden aus diesem Grunde wirkliche Ensembles, darin besteht ein wesentlicher Teil ihrer Überlegenheit über die Boulevard- Bühnen, auf denen Star-Wesen regiert. Die Mittel, mit denen die Avantgarde-Bühnen das gleiche Ziel zu erreichen versuchen, sind sehr verschieden. Kompromißlos verfolgt ihren Weg die „Compagnie Baty“ im „Theätre de P Avenue“. Der Leiter dieser Bühne, Gaston Baty, hat durch glück liche Wahl der Stücke seinen Bestrebungen geeignetes Material zu verschaffen gewußt. Baty arbeitet als Regisseur mit stark expressiven Mitteln. Großes Gewicht legt er auf eine gemäße Gestaltung des Bühnenbildes, die dem Geiste der Dichtung entspricht. Oft scheint ihm ein Bildgedanke so wichtig zu sein, daß er ihm zuliebe nicht vor einer gewissen Gewalttätigkeit gegen die Schauspieler zurückschrickt. Doch diese leichten Verkrampfungen machen keineswegs die zahlreichen Momente nichtig, in denen seine Regie glücklich mit den Schauspielern zusammengeht. In ihrem W esen etwas konzilianter, sowohl in der Wahl der Stücke als auch in der Art der Darstellung, zeigt sich die „Comedie Jouvet“. Sie kommt ihrem Publikum mit dem einen oder anderen leichten Unterhaltungsstück entgegen, um es für die Arbeit am wertvollen Drama umso sicherer zu gewinnen. Die Regie Jouvets zeichnet sich besonders dadurch aus, daß sie den Darstellern keinerlei Zwang antut, ihren indi viduellen Absichten und Einfällen sehr weit entgegenkommt und dennoch ein außer ordentlich gestrafftes Zusammenspiel erzielt. Jouvet hat mit seiner Inszenierung des „Siegfried“ von Jean Giraudoux 1928 einen Sieg erfochten, durch den er sich auf lange Zeit eine besondere Stellung im pariser Teaterleben erworben hat. Dullin und seine Truppe besitzen etwas vom Geiste der commedia dell’ arte. Seine Kunst kommt deshalb am reinsten zur Geltung in Stücken stark komödiantischen Geistes. Seine Regie ist sehr farbig, sie meistert das Menschlich-Einfache ebenso wie das Grotesk-Überschärfte. Hinter allen Gestalten, die sich auf der Bühne Dullins durcheinanderbewegen, wird stets irgendwie der Typus kenntlich, dem sie an gehören. Auch im Bühnenbild äußert sich der moderne und unbeschwerte Geist, der hier herrscht. Pitoeff steht gewiß der Tradition am nächsten. Seine Aufführungen w erden karakteri- siert durch einen stark malerischen Stil, in der Gestaltung des Bühnenraumes wie in der Darstellungsweise. Auch als Schauspieler besitzt Pitoeff dieses spezifisch Malerische. Alle Gefühlsbewegungen, die er darstellt, die Beziehungen der Darsteller, die er als Regisseur bewegt, müssen irgendwie malerischen Karakter tragen. Besitzt die Dich tung oder die einzelne Rolle diesen Karakter nicht aus sich selbst, so versucht er, sie ins Malerische zu wandeln und umzubiegen. W enn er den ihm und seiner Truppen gemäßen dichterischen Gegenstand findet, so kommen Aufführungen zustande, die in ihrer Art ausgezeichnet sind. Stößt er jedoch auf ein Stück, das sich der malerischen Darstellungsweise widersetzt, so ist er der Gefahr ausgesetzt, einer Manier zu verfallen. Die Arbeit der Avantgarde-Bühnen bleibt nicht ohne W irkung auf die Entwicklung des pariser Teaterlebens. Die Avantgarde-Bühnen haben zur Entdeckung einer Reihe von Dramatikern beigetragen, die Hoffnungen des französischen Teaters geworden sind. Schon beginnen die Boulevard-Teater von den Avantgarde-Bühnen hin und wieder Autoren zu übernehmen und damit gleichzeitig die eine oder andere ihrer darstelleri schen Formeln auszuborgen. j 314