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EIN MENSCH UNSERER ZEIT JOHANNES R. BECHER ÜBER DAS GEDICHT Ich glaube an das Gedicht. Ich arbeite daran, den Gedichtstyp, den ich nach Abschluß des expressionistischen Experiments in den letzten Jahren geschaffen habe, weiter zu verbessern und auszubauen. Der Roman scheint mir heute eine unheimlich plumpe und schwerfällig reagierende Angelegenheit, mit dieser „langen Leitung“ habe ich mich nur einmal in meinem Leben („Levisite“) versuchsweise beschäftigt. Mit dem Einbruch Joyces ist der Roman, so wie wir ihn heute kennen, nicht nur in Erage gestellt — er ist erledigt. Da ich nicht Anhänger der Yaihingerschen Filosofie des „Als ob“ bin, kann ich mich nicht in soundsoviele Personen aufteilen und mir und dem Leser vormachen, es handele sich bei den soundsovielen Personen tatsächlich nicht um mich, sondern wirklich um andere Menschen. Der Apparat, über den unsere Romanschreiber verfügen — der soziologische, naturwissenschaftliche, psychologische — ist restlos veraltet und hinfällig. Die vielen Ich- Bücher, die in der letzten Zeit erschienen sind, bestätigen diese Er kenntnis. Ich beobachte: Man entdeckt auf einmal, daß der Eine vom Anderen Nichts weiß. Ich: Das geht noch zur Not an, darüber wäre noch Einiges auszusagen, da gibt es noch Miniaturbeiträge zu einer menschlichen Dokumentensammlung, Bekenntnissplitter. Was darüber hinaus ist, ist meistens verlogen und von Übel. Dieses Schattenspiel: unser Nebeneinanderleben, das Aktenhafte und Automatenmäßige un serer Beziehungen — daß wir uns einander beinahe schon nicht mehr in die Augen sehen, Fleischmassen, auglos, gesichtsleer — daß wir jahrelang entscheidende Übergänge und Strukturveränderungen nicht einkalkulierten — das beginnen wir jetzt zu ahnen, wir müssen um lernen, neu hinzulernen, unsere Metoden der veränderten Welt und der in ihr sich gewandelten Menschen anpassen, bis eines Tages wir wieder gut austrainiert und in Form sind. Mensch unter Menschen? Ware unter Waren. Wir liegen tief unter Warenschutt vergraben. Wir müssen uns gegenseitig wieder ausfindig machen, aber Das wird ein langes, mühevolles, unterirdisches Suchen sein . . . Das Gedicht, im Gegensatz zu dem, was man heutzutage unter „Lyrik“ versteht, ist einer kommenden Menschensprache erster Lebenslaut. Und dieses Ge dicht wird das Gedicht der Massen sein, der Massen, die am 1. Mai trotz Verbots die Straßen Berlins bis zum Platzen füllen, die selbst 300