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Lippen kräuseln sich, die Brauen zuk- ken. Ich will nicht von intimeren Or ganen sprechen, die bei den Roman ciers eine wahrhaft akrobatische Aus bildung bekommen haben. Ferner: die Leute in den Büchern reden oft hintereinander mit einer Ausdauer wie nie im Leben möglich. Da entwickelt einer in einem Dialog in zwei Druckseiten Reden seine Ge danken über Gott und die Welt. Die einzigen Leute, die das im wirklichen Leben tun, sind Berufspolitiker, und auch die tun es nur bei rituellen An lässen. Nie in Privathäusem. Da versuchen sie es manchmal, werden aber sofort unterbrochen. Ferner: Namen und Titel. Was haben die Leute in Romanen alles davon! Merk würdig ist, daß eine Menge Dinge, die im wirklichen Leben Vorkommen und interessant sind, nie in den Romanen Vorkommen. Zum Beispiel Wieder holungen. Da fällt zum Beispiel ein Herrenreiter vom Pferd und bricht sich etwas. Im Roman kommt das bei ihm nur einmal vor. Man weiß, daß ihm das im Leben dutzendmal passiert. Einer kommt zu spät zum Diner. Aber im Leben kommt er im mer zu spät. Die auffallendste Trennung zwischen dem wie behauptet im Roman ab gemalten Leben und dem wirklichen Leben kann man dort konstatieren, wo der Verfasser einen „erfolgreichen Mann“ darstellt. Im Leben ist der erfolgreiche Mann nie ein Typus. Er ist so variabel, wie ein Mann mit Zahn schmerzen oder einer mit Warzen am Kinn. Die einen sind nett, die ändern brutal, andere stupid. Der eine erbt, der andere verdient, der dritte begau nert und so weiter. Trifft man im Leben einen erfolgreichen Mann, so hat man nicht die geringste Ahnung, was und wen man trifft, denn der vor her kennengelernte Erfolgreiche ist nicht im geringsten ein Führer zum nächsten Erfolgreichen. Aber in den Romanen ist der reiche oder welt bekannte Mann immer ein mächtiger Charakter. Er irrt sich nie. Gut oder schlecht, deutsch oder amerikanisch, jung oder alt, er hat immer etwas an sich, das einen tüchtigen Feldwebel auszeichnet, oder einen Schiffsinge nieur. Er zeigt Eigenschaften, die mit dem, was man Erfolg nennt, so wenig zu tun haben wie rote oder blonde Haare. Der erfolgreiche Mann ist im Roman ein Typ, im Leben gar nicht. Hier unterbricht mich der Leser mit folgendem Satz: „Aber wenn die Romane angefüllt wären mit wirk lichen Menschen, w'ohin sollte man denn aus dem täglichen Leben fliehen?" Woraus sich ergibt, daß, was die Menschen Kunst nennen mit dem Leben nichts zu tun hat und nichts zu tun haben darf. In der Kunst wünscht der Mensch das im Leben Unmögliche ermöglicht zu sehen. Illlllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll 31