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MENSCHEN, WIE SIE IN BÜCHERN STEHEN Warum sind nur die Leute in Bü chern so außerordentlich verschieden von den Leuten im Leben? Da denkt man, in Biographien wäre das anders, aber auch da ist’s wie in den Romanen. Man kann dazu sagen, die modernen Biographien seien eine blasse, kon ventionelle, hypokrite Angelegenheit, und daß der Biograph sich nicht traue, neun Zehntel seines Materials zu ver werten unter der Tyrannei des Schick lichen, und daß er so aus seinem Helden eine Puppe machen müsse. Aber auch die alten Biographien sind nicht anders. Sie gruppieren ihr Ma terial immer um irgendeinen fixierten abstrakten Punkt als die Hauptsache, zum Beispiel eine politische Über zeugung, eine Passion, Geld zu machen usw. Autobiographien sind darin ein bißchen besser. Sie sind lebenshafter. Aber auch in ihnen faßt man höchst selten einen wirklichen Menschen. Goethe stilisiert sich, Cellini macht Maske, Rousseau gleichfalls. Casanova schneidet auf, Augustin sagt so gut wie nichts über sich. Ich glaube, die Auto biographen sind von den erfundenen Leben in den Romanen angesteckt. Denn da ist’s notorisch, daß die Leute weder gehn noch stehen noch sitzen noch reden wie Leute sonst im Leben. In den Romanen tun sie Sachen, die weder physisch noch moralisch von wirklichen Menschen getan werden können. Da kommt zum Beispiel ein Liebespaar von der Fuchsjagd heim. Nun, daran ist nichts ungewöhnlich. Aber da sind sie abgesessen, gehn zu Fuß und lassen ihre beiden Pferde hinter sich hertraben. Außer in Kavallerieregimentern oder im Zirkus gehn aber nie zwei Gäule brav neben einander; hier sollen sie es tun, um eine Liebesszene nicht zu stören. Viel leicht haben die zwei Pferde das Ein sehn dem Autor zuliebe. Aber es gibt anderes, das nicht passieren kann. Da setzen sich zum Beispiel sehr reiche Männer immer plötzlich hin und schrei ben einen Scheck auf eine Riesen summe aus, so mir nichts dir nichts. Das kann auch der reichste Mann nicht. Denn so hegt sein Geld nicht auf der Bank. Nur das imaginäre Geld des Autors liegt auf Konto kurrent. Und was die Leute in den Büchern alles mit ihrem Mund ma chen! „Ich denke nicht daran, lachte sie." Wer im Leben versuchen wollte, „ich denke nicht daran“ zu lachen, würde als ein Irrsinniger betrachtet werden. Dem Autor ist aber nichts leichter als das. Ebenso wie das Mur meln. Ich habe noch nie einen wirk lichen Menschen murmeln hören; außer beim Zahnarzt, wenn dieser dem Pa tienten sein oben und unten falsches Gebiß herausnahm, und der Patient zu reden versuchte, was man vielleicht ein Murmeln nennen kann, murmelt nichts sonst, als die Quelle in schlech ten Gedichten. Man lasse ihr das! „Schlange! zischte sie“. Hat jemals wer so was zischen hören von einem Menschen? Aber nicht nur der Mund leistet in Romanen das Tollste; auch andere Organe, wie man weiß. Die Augen blitzen diamanten auf oder ver suchen es. Die Nase rümpft sich, die 30