Volltext Seite (XML)
AUF DER PROMENADE DES ANC.LAIS Noch im Vorjahr sollen nicht wenige Deutsche in Nizza gewesen sein; in diesem Jahr lassen sie sich fast an den Fingern einer Hand zählen. Deutsch sprechen hört man überhaupt nicht; es sei denn, die wie eine Kreuzung zwischen Heilsarmee und englischer Nurse angezogene poly glotte Zeitungshändlerin macht nach Versagern in anderen Sprachen den letzten Versuch, einem mit ein paar deutschen Worten eine Berliner Zei tung zu verkaufen. Die Erscheinung dieser nicht mehr jungen Frau ist übrigens nicht die uninteressanteste auf dieser Promenade: ein Gesicht so fein geschnitten, zwei Augen, so klar, eine Stimme, so einschmeichelnd, ein Benehmen, so zurückhaltend, daß man das bestimmte Gefühl hat, irgend ein Schicksal sonderlicher Art verrinne hier im Kampf ums tägliche Brot. In ihrem ganzen Auftreten sticht diese Frau so wohltuend nicht nur von ihren heiser geschrienen männliclienKollegen, sondern auch von vielen hier zu ihrem oder anderer Vergnügen promenie renden Damen ab, daß man die Reihe der Typen, die diese Korsostraße Nizzas bevölkern, ohne Skrupel ruhig mit dieser Madame oder wohl eher Miss X. beginnen kann. Zumal die Gesichter der Welt, die so glücklich ist, im Januar in Nizzas Sonne zu baden, von einem erstaunlich übereinstimmen den Ausdruck sind. Um so weniger wird aber der Liebhaber der Frauen moden enttäuscht sein. Hier auf der Engländer-Promenade zwischen dem Kasino der Jetee-Pro menade und dem Strand-Restaurant des Negresco, des derzeit schicksten Hotels des Strandes, gegenüber den Ambassadeurs und dem Royal, wo man trotz der reichlich frischen und feuchten Luft im Freien frühstückt, luncht und Kaffee trinkt, rollt sich alltäglich zwischen elf und halb ein Uhr das immer noch interessanteste Stück des Nizzaer Lebens ab. Wenn die Sonne so intensiv leuchtet, daß viele Vertreter beider Geschlechter mutig in braunbeglasten Horn-Brillen paradieren, wenn der Himmel und die See in dem Blau gleißen, das der Azurküste ihren Namen gegeben hat, wenn die Möven von dem Palais des Jetee-Kasinos sich über die hohen Palmen der Place Massena verirren und sich dort im Fluge füttern lassen, dann trifft sich alles auf dieser Prome nade und ihrem kleinen Appendix, den man den Yankees zuliebe Quai der Vereinigten Staaten genannt hat. Engländer, Franzosen und Ameri kaner sind die drei nicht schwer zu erkennenden Hauptströmungen in die ser Menschenflut, die sich über die glatten Asphaltplatten ergießt. Einige östlich angehauchte Physiognomien, ein kleiner Prozentsatz Polen und Tschechen, hie und da ein paar orien talische Kostüme, selten eine franzö sische Offiziersuniform, damit ist das promenierende Publikum ethnogra phisch restlos umschrieben. Dazwischen verwöhnte Kinder, auf Rollern flink umhergondelnd oder ausgefallenes Spielzeug spazierenführend; ich sah eine John-Bull-Bulldogge, wie aus dem 26