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D I E LIEBE DER ALTERNDEN Die Eltern eines frühreifen, begabten Jungen von dreizehn Jahren zeigen dessen dreiundfünfzigjährige Lehrerin wegen Verführung des Knaben an. Ein rührender Brief der alten Jungfer — virgo intacta bis zu diesem ihren ersten Liebeserlebnis — an den Buben, den die Eltern abfangen, bringt die Sache ans Licht, das die Einglückliche nun nicht mehr scheut: sie gibt ihre Liebe, ihre richtige Frauenliebe, zu dem Knaben zu. Nicht die bewußte Ver führung, nicht die bösartige Vcrder- bung, deren sie die Eltern beschuldigen. Ihr ganzes Herz liebte zum erstenmal, und die nie geweckten Sinne oder was davon no:h vorhanden in diesem alten Mädchen stürzt diesem Herzen nach und schenkt sich mit. Das Natürlichste und Alltäglichste von der Welt. Aber der Mann ist, wenigstens dem Geburts datum nach, dreizehn Jahre erst, wenn auch, wie der Brief der Liebenden ver muten läßt, ein loser Schlingel, dem andere Mädchen nicht gleichgültig sind. Daß diese bescheidne, mütterlich gute alte Jungfrau, die wie eine brave Nonne lebte, „verführt“ habe, das wird außer dem Vertreter des Gesetzes, der sich an den Buchstaben hält, niemand glauben. Weit eher, daß der wissende Bub das alte Mädchen verwirrte, das Streich holz an das halb dürre Reisig dieser Sinne hielt, daß eben brannte, was noch brennen konnte. Rohheit kann das komisch finden. Es ist aber tragisch wie alle Leidenschaft und alles Denken. Gefährlich komisch in ihrer Ratlosig keit vor solchem Geschehen sind nur des Jungen Eltern, die zum Staats anwalt leichter den Weg finden als zum Herzen der einsamen, liebenden Frau, mit der sie gütig sprechen müßten, aber es als das Leichtere vorziehen, vor dem Staatsanwalt wütend zu gestikulieren. Unerhört anders gerichtet wurde hier von der alten Jungfrau, der mütterlich besorgten Geliebten, der normale An- und Ablauf des männlichen Liebes- lebens, das sich seine ersten Sporen bei der Prostituierten der nächsten Stra ßenecke zu verdienen habe und nicht in den Armen einer liebenden, w r enn auch dafür betagten gütigen Freundin. Das dürfen Eltern nicht dulden. Seltsam verbunden mit der Prostituierten ist hier elterliche Moral, die den faulen Schoß der Dirne für den besseren Ort hält, die reife Frucht der Liebe auf zufangen, als den mütterlich-gütigen eines alten, bis nun reinen Mädchens. Schon das Los des jungen Mädchens, über das die Leidenschaft herfällt wie ein reißendes Tier, ist kein glückliches, denn ganz den vernichtenden Sin nen überliefert lebt sie immer im Sinnlosen der Ekstase, der Angst, der Verzweiflung, des Verbrechens. Aber auch in der Dankbarkeit dort, wo der Mann Antipathie fühlt. Einer der klügsten Betrachter der Liebe machte die Bemerknng, daß das befriedigte sinnliche Bedürfnis bei der Frau Dank barkeit, beim Manne Antipathie her vorrufe. Es ist wie auf einer Schaukel: steigt die Frau, sinkt der Mann, und umgekehrt. Man staunt, daß sich die beiden überhaupt treffen. Es muß da auch in der Liebe nicht nur Unähnlich keiten geben, andere noch als des Ge- 22