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Nr. 1/2 Das Neue Rußland Seite 13 (Sonntags) getrunken, ferner Milch in allen Gat tungen, zuweilen auch Quast. An berauschenden Getränken ist vor allem der Branntwein beliebt, der bei Festen und Handelsgeschäften in reich lichem Maße genossen wird. Ferner M ein (für die Frauen), Bier. M ährend des Schnapsverbots kochten unsere Kolonisten den Branntwein selbst. Er heißt ,,Samogon“ („Selbstgebrannter“, „Mond schein“), enthält viel Kornöl. Fusel und ist für die Gesundheit sehr schädlich. In manchen Gegenden ist er längst wieder verschwunden. Die Freigabe der Getränke wird ihn hoffentlich rasch wieder ganz verdrängen. \ olksfeste. Die beste Gelegenheit zur Pflege der A olksbräuclie sind die Feste. Die Jahresfeste eröffnet das Neujahr. Um zwölf Uhr geht die Jugend auf den Glockenstuhl und läutet das neue Jahr ein. Nachher schicken sich die Burschen und jungen Männer zum Neujahr- anschießen an. Die Burschen gehen gruppenweise zu Nachbarn und Verwandten. Im Vorhaus spricht jemand einen, der hier noch zahlreich erhaltenen, gereimten, alten Neujahrswünsche. Dazwischen schießt jeder seine Pistole los, „daß die Stubbetür kracht“, der letzte nach Beendigung des Spruchs. Nun treten sie in die Stube ein, und einer spricht noch einen kurzen Neujahrsgruß. Sie werden zu Tische geladen und bekommen jeder ein paar Schnäpselten und ..Zuhiß“, aus aufgeschnittener M urst und Schweinefleisch bestehend. Dann er bittet sich jeder von den ledigen Töchtern des Hauses ein Band an seine Pistole, und der Zug zieht weiter. M enn’s hell ist, kommen auch die Kleinen zu ihren „Pettern“ und „Goten“ und Ver wandten, sprechen ihre Sprüchlein und schießen mit gefrorenen „Pferdeäpfeln“, die sie auf der Straße aufgelesen haben. Dann bekommen sie ein paar Kopeken oder einige Süßigkeiten („Lebkuche") zum Geschenk und ziehen auch weiter. Am 2. Februar, zu Lichtmeß, kommt, wie der \ olksmund behauptet, der Dachs aus seiner Höhle. M enn es da hell ist, daß er seinen Schatten sieht, dann erschrickt er, rennt zurück und bleibt noch 30 Tage darin. Ist es aber trüb, daun bleibt er draußen und es wird Frühling. Am Gründonnerstag werden in manchen unserer Dörfer Grünsuppen aus Brennesseln gekocht. Der Karfreitag ist bei uns der größte Feiertag. Da zünden viele Lutheraner den ganzen Tag kein Feuer an und fasten, essen bis zum Sonnenunter gang keinen Bissen. Sogar die Fische im Wasser stünden an diesem Tage still, sagt man, und die \ ögel baueten nicht an ihren Nestern. Am Ostermorgen geht der Gemeindechor mit den Musikanten vor Tagesgrauen auf den Kirch turm und singt und bläst von dort Osterlieder in die M eit. Die Kleinen flechten sich am Vorabend Gertclien. Da legt der Osterhase in der Nacht ge färbte Eier hinein. Die Jugend „scliulwert“ Eier, spielt Ball. Es ist ein lustiges Fest. Der 1. April ist der Tag der Neckereien. Da schickt man einander „in den April“. Am 1. Mai ging oder fuhr die Jugend in den M ahl, ins Grüne, spielte, sang. Um so mehr geschieht das heute im Rätelande, als dem Tage des Zusammenschlusses aller \ ölker der Erde. Zu Pfingsten stecken die Burschen ihren Mäd chen Maien. Böse beleumundeten Mädchen da gegen steckt man einen Putzemann (Vogel scheuche) auf den Schornstein. Die Jugend geht ins Grüne, veranstaltet abends ein Tänzchen. Be sonders feierlich wird das Pfingstfest in meinem Heimatdorfe Schilling begangen. Da geht die ganze Jugend in Kameradschaften zur M olga. während die Alten am Ufer bleiben, schmückt mau die Kähne („Aclie“) mit Maien und rudert auf und ah. Es wird Bier und Met getrunken und die unzäh ligen Volkslieder gesungen. Auch die Musikanten sind auf dem M asser und blasen \ olkslieder. So geht die Lustbarkeit drei Tage lang vor sich. Das zweite große \ olksfest ist die „Kerb“ (Kirchweihe) im Oktober. Da tanzt unsere Jugend drei Tage und Nächte hindurch. Zur Kerb werden auch Schweine geschlachtet und man feiert „Metzelsupp“. Am 6. Dezember, als am Niklostag, bekommen bei den Katholiken die Kinder Nüsse und Leb kuchen. Da geht am Karainan auch der Holz- pieker um, manchmal sogar in eine rohe Kuhhaut mit Hörnern verkleidet. Am Christabend geht der Pelznickel, d. h. der Niklos im umgewandten Pelz in den luth. Kolonien um. Mit einer rasselnden Kette um die Lenden und einer Peitsche oder einer mächtigen Rute in der Rechten, geht er von Haus zu Haus und züchtigt die Sünder aller Art, alt und jung. Harm loser ist das Christkindchen, das auch an diesem Abend umgeht. In dieser Nacht um zwölf, glaubt man, können die Haustiere mit Menschenstimme reden. Auch treibt man sie zur Geisterstunde an die Quelle, denn man glaubt, in dieser Stunde sei das M asser M ein und habe Zauberkraft. Am M eilxnachtsmorgen trägt man seinen Patenkin dern Tüchelchen mit Süßigkeiten aus. Es ist das Freudenfest der Kinder. Am Silvesterabend stellt man M etterschalen von Zwiebelfleisch mit Salz auf, 12 an der Zahl, um den Reichtum an Niederschlägen fürs Jahr vorauszubestimmen. Auch schlägt man in der Nacht Bücher auf, um sein Schicksal und das Gesicht des kommenden Jahres zu erforschen. Die Jugend ist die ganze Nacht auf der Straße. Zum Schluß sei noch eines wichtigen Begäng nisses gedacht, das ist das Ende des menschlichen Lehens, der Tod. Ebenso wie man das alte Jahr mit viel Teilnahme begleitet, so begleitet man bei uns auch die Toten. Stirbt jemand, so werden ihm die Augen zugedrückt, der Spiegel wird zu- geliängt. Ist es der Hausvater, so werden sämt liche Obstbäume geschüttelt, damit sie kommen des Jahr nicht allzusehr trauern und nicht ganz