Volltext Seite (XML)
Seite 12 Das Neue Rußland Nr. 1/2 Noch andere zahlreiche Bräuche sind mit der Hochzeit verbunden, die hier des Raummangels wegen nicht einmal genannt werden können. „Nun muß ich mein lediges Leben verlassen“... singt die Braut beim Brautabtanzen (Kranzab- nehmen) unter Tränen. Der Freudentag ist zu Ende. Nun kommt des Lehens Alltag. 11 ier muß vermerkt werden, daß unsere neue Zeit auch in die Hochzeitsbräuche manches Neue hineingetragen hat. Es kommt z. B. neuerdings schon recht oft vor, daß sich Heiratende nur bürgerlich registrieren lassen und von jeglicher kirchlichen Feier absehen. Der Alltag. Es ist hei uns hierzulande nicht üblich, daß die Neuvermählten gleich nach der Hochzeit ihr eigenes Heim beziehen. Bei uns be steht immer noch die patriarchalische Groß familie, die manchmal 40 bis 50 Seelen zählt. Es leben da nicht selten drei verheiratete Genera tionen zusammen, also Eltern, Kinder, Enkel- und Großenkel, eine Art von Urkommune. Der Altvater führt den Geldsack und regiert und lenkt und richtet und schlichtet die ganze Familie. Die Hauptbeschäftigung unseres Volkes ist die Bearbeitung des Feldes, Die Ackerei dauert zwei bis drei Wochen. Indessen arbeiten die Frauen im Obst- und Gemüsegarten, graben, stecken, wässern . . . Nach dem Ackern wird Mist gemacht, d. h. der Dünger wird nicht auf die Felder ge fahren. sondern in ziegelartige Steine geformt und getrocknet, als Brennstoff verwandt. Dann verbessern die Männer die Gemeindebriicken und Wege. Das nennt man „fronen“. Bei dieser Arbeit nimmt man sich viel Zeit, denn das Sprich wort sagt: „Wer sich uff der Fron tot scliafit, der werd mit Eselsfärz begrawe.“ Die Frauen scheren die Schafe. Die Buben reiten abends auf die Nachtweide. Dann kommt die Zeit des Reinigens der Hackfrüchte, des Jätens der Frucht. Das Steppenheu wird gemäht und aufgemacht. In zwischen ist die Erntezeit da. Die Mähmaschine oder nach Urväter Art, Reff' und Sense.werden instand gesetzt. Und es geht hinaus ins Feld. Auf der Tenne werden zweireihige Garbenkränze angelegt, und die Dreschsteine, eine Erfindung der Wolgadeutschen, klopfen drüber hinweg. Eins, zwei, drei ist so ein Kranz ausgedroschen. Neuer dings wird vielfach auch mit der Maschine ge droschen. Das geht noch viel schneller. Nach dem Ausreiten wird das Gemüse, Kartoffeln, Kohl, Rüben, Kürbisse, Wassermelonen eingeheimst und die Frauen beginnen mit dem Muskochen. Mus, auch Saft, Honig, Latwerge, Süssche, Schlecksel genannt, ist ein Sirup aus Rüben-, Kürbis- oder Ärlmsensaft. Die Männer fahren Futter ein, oder „Ackern schwarz“ für die Frühlingssaat. Nun ist die schwere, von tausend Bräuchen be gleitete Feldarbeit beendet, und unser Bauern volk genießt die wohlverdiente Ruhe. Natürlich wird auch im Winter nicht alle Tage Sonntag ge feiert. Die Männer versorgen das ziemlich zahl reiche Hausvieh, flechten Körbe, setzen das Pferdegeschirr instand, manche fuhrwerkern, ,Trachten“, andere weben Sarpinka, Lodentuch (für sich und die Nachbarn). Die Frauen nähen, spinnen, stricken, häkeln, weben, besorgen die Hausarbeit. Abends allerdings geht man auch ein mal eins „spille“, die Jugend in die „Spinnstube“, die Alten in die „Maistube“ (am Karaman). Im Leben des Wolgabauern nehmen Speise und Trank einen wichtigen Platz ein. Das Brot bäckt die Kolonistenfrau unbedingt selbst. Darin ist sie eine große Meisterin. Gebacken wird Roggen- und Weizenbrot. Das „Brot“ ist aus gebeuteltem Roggenmehl und sehr weiß. Der ..Kuchen“ aus feingeläutertem Weizenmehl. Es werden an Weiß brot gewöhnlich nur Sonnabends große Laibe („Küche“ auch „Kalatsch“, russisch, und dünne Kuchen mit Riebeln (Sträußeln). Obst. Beeren. Mus oder ohne Auflage („Petzkuchen“) gebacken. Wenn der Teig gemacht ist. streichen die Frauen ein Kreuz darüber. Auch beim Auswirken des Brotes wird auf jeden Laib ein Kreuz gemacht, das Brot darf nicht auf die Oberkruste gelegt werden. Sonst bekommen die „bösen Leute“ (Hexen) die Macht über das Haus. An Speisen werden im Sommer meist Mehl- und Kartoflel- gerichte gekocht, vor allem Klöße in ihren mannig faltigen Gattungen, im W inter Fleischsuppen mit Kraut, Kartoffeln Hirse, Reis, Bohnen, Riebeln (Klößchen). Die Speisenfolge am Tage ist ungefähr solche: Am Morgen wird — im Sommer — Stepptee (aus Steppenkräutern und Süßholz) mit Butterbrot oder Butterkuchen, auch Salze brot gegessen. Zu Mittag (im Felde meist) Klöße, geschmelzte, gebratene, gedämpfte, mit Kohl, aus Kartoffeln, ausgeschöpfte, Hirseklöße, Hefe klöße, Kraut und Dicke ... Zu Hause auch einmal Mehlbrei oder Pfannkuchen. Hirsebrei in Milch oder in Wasser gekocht, Sonntags Kraut und Fleisch und Kartoffelbrei, Nudelsuppe mit Fleisch. Schnitzsuppe und Kräppel ... Um vier Uhr wird im Felde ein Stück Brot mit Butter oder Salz, auch mit Gurken, Melonen, Obst gegessen. Zu Abend kocht man im Felde eine Kartoftelsuppe mit geröstetem Mehl („Geröschti Mehlsupp“), zu Hause Tee oder Prips (Gerstenkaffee) mit Brot oder Kuchen. Im Winter gibt’s am Morgen Weizenkaffee (aus Vollmilch mit etwas geröstetem Weizen und Süß holz), oder Prips oder Stepptee oder lee, nach Möglichkeit mit einer Pfanne voll gebratener Wurst oder gebratenem Schweinefleisch und Brot dazu. Am Mittag gibt’s eine Fleischsuppe, Sonn tags Schnitzsuppe und Braten mit Schweinefleisch, oder Hirsebrei mit Kraut, oder Kraut und Brei mit Schweinefleisch. Abends eine Suppe oder Tee mit gebratener Wurst. Vor dein Schlafengehen eingemachte Äpfel oder Arbusen mit Brot, auch ein Stück Salzebrot mit Zwiebeln. An Getränken wird außer dem erwähnten Tee, Stepptee, Weizenkaffee, Prips, noch guter Kaffee