Volltext Seite (XML)
Seite 10 Das Neue Rußland Nr. 1/2 Der Schöpfer dieser enthüllenden und geißelnden Presse, des Spottliedes, war — und ist — haupt sächlich die männliche ledige Jugend. Daß man diese Stücklein mehr fürchtet, als eine körper liche Züchtigung, braucht nicht erst gesagt zu werden. Im Volkslehen spielen sie eine große Rolle. Es gibt ganze gereimte Dorfchroniken, ganze Jobsiaden. So hielt das Volk seinen Geist rege, bis zu der Zeit, wo es schreibende und dichtende Leute vor schicken konnte. Volksglaube. Wie auch im alten Mutter lande, oder vielleicht noch mehr, so lebt unter dem deutschen Volk an der Wolga alter Urglaube, starrer Aberglaube fort, dessen Wurzeln im Dunkel grauer Vorzeit, zerronnener Jahrtausende zu suchen sind. Für alle Lebenslagen sucht unser einfaches Volk eine geheimnisvolle Erklärung, eine Ursache, einen Zusammenhang mit den Natur erscheinungen, mit der Umgehung. Sonne, Mond und Sterne künden ihm Heil oder Unheil, fetter und Zeit sind in seiner Vorstellung Lenker und Träger menschlicher Geschicke, Menschen und Tiere — zauberkräftige W esen. So glaubt der Wolgakolonist, Hungerjahre, Krankheiten, Krieg und Blutvergießen im voraus am Himmel ablesen zu können. Es sind älteste Reste des Urglaubens, die in der Seele unseres Volkes noch schlummern und fortleben. Auch Schatten der alten, urgermanischen Gottheiten und ihrer Helfershelfer spuken noch hei uns herum. Unsere Zeit bringt in raschem Tempo Aufklärung unter das J olk. Und der Nebel des Aberglaubens und des Geisterspuks schwindet von Stunde zu Stunde mehr und mehr aus den Köpfen der Menschen und mithin aus der Welt. Kindheit. Unser Volksleben ist reich an mannigfachen Bräuchen. Nach der Geburt wird der Vater gerufen und ihm das Kind gereicht. Dann spricht die „Allinotter“ am Bette der Kindsbet terin ein Sprüchlein oder ein Gebet. Gleich am ersten Tage nach der Gehurt geht die Geburtshelferin zu den von den Eltern sorgfältig auserwählten Paten („Petter un Gote“) und bringt ihnen ,,de Petter“ oder „die Got“, je nach dem, oh es ein Knabe oder ein Mädchen ist. Dabei sagt sie ein übliches Sprüchlein her. Getauft wird das Kind meist am nächsten Sonntag. Bis dahin muß im Hause der Wöchnerin beständig Licht brennen, damit dem Kind nichts „Böses“ ge schehe. Wenn ein Knabe geboren wird, nimmt man allen Mannspersonen, die zufällig ins Haus kommen, die Mütze weg und versteckt sie. Man sagt, der Kleine habe sie, er brauche sie. % Bei Unwohlsein des Kindes greift man mit \ or- liehe zu Hausmitteln. Wenn das Kind Bauch schmerzen hat, gibt man ihm „Spatzendunst“ ein, oder der Vater spricht einen Zauberspruch gegen „böses Auge“, indem er das Kind dreimal zwischen seinen Beinen durchzieht. Das Kind darf nicht durchs Fenster gereicht werden, damit es nicht dereinst Neigung zum Stehlen bekomme. Aus demselben Grunde darf die Mutter dem Kinde im ersten Jahre die Nägel nicht abschneiden: sie muß sie abbeißen. Fügt sich das Kind einen Schmerz zu, so bläst die Mutter und spricht: Ilaale, haale, Sege — ’s is nix dra gelege. Haale, haale, Gänsdreck — Bis marge früh is alles weg. Beim Einwiegen des Kindes singt die Mutter allerlei Wiegenliedchen, z. B.: Schlof, Kindche, schlof! Dei Dade liüt’t die Schof, Dei Mamme hiit’t die Lämmerchin, Sie fresse Gras un Blümmerchin. Mit ihrem Kinde spielend, spricht die Mutter verschiedene Kose- und Neckverschen, wie: Bärtche, Mäulche. Näsche, Äägelche, Äägelche, Sternche, Zopp, zopp, zopp, Hörnche. Dabei tupft sie mit dem Finger auf Kinn. Mund. Nase, Augen, Stirn und zupft zuletzt an der Stirnlocke (Hörnche). Sehr früh werden die Kleinen zur Arbeit heran gezogen. Vor allem müssen sie ihre kleineren Geschwister wiegen und warten. Im übrigen aber finden sie doch noch Zeit genug zu sorglosem, frohem Spiel. Dabei werden unzählige Liedlein gesungen und Verslein gesprochen. Findet man ein Marienkäferchen, so singt man: Herrgottsvöggelche, flieg fart, Flieg in die Dreispitz, Wu dei’ Vatter un Mutter sitzt. Kuinme drei Kergise, Wolle dich totschieße. Ilapü! Dabei bläst der Knirps das auf dem Finger sitzende Käferchen an und läßt es fortfliegen. Machen die Kinder W eidenpfeifchen, so klopfen sie mit dem Messerstiel darauf und singen: Saft, Saft, Seide! Schlange in die W eide ! Schlange aus T11 helle Licht, Dasz mei’ Peifche net verbricht! Schulzeit. So geht die erste Kindheit in Arbeit und Spiel vorüber. Es kommt die Zeit, zur Schule zu gehen, heute wohl voller Pflichten, aber auch nicht ohne Freuden, trüber war das eine furchtbare Zeit. Die Kleinen wurden schon lange vor dem Schulgang „ferchtig“ gemacht. Wie freute man sich dann, wenn der Frühling kam, und man die staubige, muffige Schulstube verlassen konnte, um Schafe zu hüten. Wie konnte man sich da herumtummeln, was konnte man nicht alles spielen. Herrliche W ochen dieses Schafhüten bis zum Austreiben des Gemeinde- liirten. So vergingen auch die Schuljahre iii Arbeit Spiel und Lernen. Man kam aus dem A in den