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Nr. 1 2 Das Neue Rußland Seite 9 gewebter und blaugefärbter Leinwand, sonst aus grauem oder schwarzem FabrikstofF, zum Teil auch aus den Kolonien selbst stammend. Im Sommer tragen Mann und Frau, groß und klein, selbstgestrickte und selbstgesolilte leichte Schuhe. Die Frauen trugen bis vor kurzem als Sonntags staat ihre Biedermeiertraehten in der Form von anno dazumal, weite Faltenröcke, kurze, weite Jacken, große Faltenschürzen, oft aus feinem schwarzem W ollstoff (Kaschmir), auf dem Kopf ein Tüchlein mit einer Blume, die Mädchen helle, die Frauen schwarze. Im Winter tragen die älteren Frauen heute noch Sonntags einen schwarzen, gefütterten Tuchmantel (..Pelz“ ge nannt) mit einem großen Fuchskragen, auf dem Kopf ein großes warmes Tuch, einen Schal. Die Mädchen tragen heute städtisch zugeschnitteue gefütterte, ziemlich kurze Tuchjacken, ,,Koft“ oder ,.Geesch“ genannt. Merktags tragen alle Frauen gewöhnlich eine gehäkelte Lntertaille. ..Mutze“ genannt, darüber eine kurze, gefütterte Jacke aus Fabrikstoff mit enger Taille, ,,Koftche“ genannt, oder auch einen faltenlosen gelben Schafspelz. Als Fußwerk tragen sie halbhohe Schuhe mit Gummistoffeinsatz an den Seiten, darüber häufig Gummischuhe. Im W inter tragen alle Filzstiefel, die Frauen meist schwarze. Sprache. Nirgends spiegelt sich die Geistes art eines V olkes so klar und scharf wider, wie in seiner Sprache. So ist auch die Sprache der W olgadeutschen zunächst Zeugin ihrer Zähigkeit und Standhaftigkeit. Wie sich die Gau- oder Heimatgruppen kolonienweise ansiedelten, so sprachen sie auch ihre heimische Mundart weiter. Die zugesiedelten kleineren Gruppen oder Ver treter anderer Mundarten haben sich erfahrungs gemäß schon in der ersten hier geborenen Genera tion der Mehrheitsmundart angeschlossen, indem sie dieser einzelne Eigentümlichkeiten zugeführt und sie bereichert haben. So ausgestaltet und ab geklärt. haben sich die Dorfmundarten in all ihrer Mannigfaltigkeit und Buntheit bis auf den heutigen Tag erhalten. In ähnlicher Weise haben sich dann auch die einzelnen Mundarten der zahl reichen Tochterkolonien ausgebildet. L nd wir können heute mit Recht sagen, daß wir, indem wir an 200 Kolonien haben, in ebensoviel eigen- artig gefärbten, voneinander sich stark unter- selieidenden Mundarten reden. Freilich haben unsere Mundarten, ebenso wie die lebenden Sprachen aller \ ölker und Zeiten, eine gewisse Entwicklung durchgemacht. Eine Annäherung an die hochdeutsche Kultursprache ist nicht zu verkennen. Die W olgamundarten haben einen erstaunlichen Reichtum an alten kräftigen und treffenden Redensarten und Sprichwörtern erhalten und unzählige neue geprägt. Die V olkssprache schillert geradezu davon. Altere Leute haben für jede ihrer Darstellungen ein treffendes Sprichwort oder Gleichnis. Allerdings hat die \ olkssprache auch eine Anzahl russischer Wörter aufgenommen, namentlich Bezeichnungen für Gegenstände, die man hierzulande kennenlernte. Im großen tind ganzen aber ist die Zahl solcher russischen Wörter verhältnismäßig sehr gering. Dagegen hat unser Volk eine Menge eigener urdeutscher Bezeich nungen geprägt, die es hier in der neuen Heimat erst kennengelernt hat. Aber nicht nur deutsche Bezeichnungen prägt unser Volk für neue Begriffe; es besitzt auch heute noch die innere Kraft, russische Volks elemente, sogar wenn sie in beträchtlicher Zahl im Dorfe vertreten sind, rasch und völlig sich anzugleichen. Anders ist es, wenn unsere W olgadeutschen in russische Dörfer oder Städte übersiedeln. In der fremden L mgebung verlieren sie ihre Mutter sprache sehr rasch: nach 5 bis 10 Jahren wird gewöhnlich in solchen Eamilien nur noch russisch gesprochen. Dichtung. Uin die Wolgadeutschen rasch im Russentum aufzulösen, hat die zarisehe Regierung zunächst dafür gesorgt, daß das W olgadeutschtum keinerlei unmittelbare kulturelle und geistige Fühlung mit dem Mutterlande pflegen konnte. Aber das war ihr natürlich nicht genug. Auch die eigenen Geisteskräfte sollten in ihrer Betätigung gehemmt und, wenn möglich, erstickt werden. Gewährte man ihnen eine höhere Schule und gar eine eigene Presse, so konnte man auf ihren nationalen Untergang lange warten. Das war teuflisch richtig gedacht. Manches hat man durch diese V ernichtungspolitik erreicht, aher ganz zum Ziele ist man glücklicherweise doch nicht gelangt. Das \ olk wußte sich in seiner Not selbst zu helfen. Das fehlende Kunstschrifttum: Schiller, Goethe usw. ersetzte das Volk zunächst durch eifrige Pflege des Volksliedes. Nicht wenig nährten den Geist des Volkes auch die zahlreichen schönen gereimten und ungereimten Sprichwörter und die sinnigen, bilderreichen Redensarten. Die fehlende Presse ersetzte den Alten sommers die Torbank oder der Sammelplatz irgendwo am Wolgaufer „die Börse“, winters — die „Maistube“ oder „Spillestube“. Da wurden — und werden heute noch — die unzähligen witzigen Schnurren und die geistreichen Schwänke und die von iiber- schäumeuder Einbildungskraft strotzenden ..Lügen“ (scherzhafte Aufschneidereien im Geiste Münchhausens) zum besten gegeben. In ähnlicher W eise betätigte auch die Jugend ihren Geist in den „Kameradschaften“ oder ..Spinnstuben“ mit der Zugabe, daß da auch noch mit Begeisterung und Frohsinn Volksweisen und Tanzliedlein ge sungen, ja auch mal eins getanzt wurde. Das geschieht auch heute noch so. Das Volk hatte sich aber nicht bloß eine unter haltende und belehrende Presse in der geschilderten W eise geschaffen, sondern auch eine enthüllende und geißelnde, so eine Art „W aliren Jakob“ oder „Simplizissimus“ ins Wolgadeutsche übersetzt.