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PROF. HEINRICH WIEYNCK »NEUE TYP AUSSTELLUNG IN DER STAATLICHEN KUNSTGE 1 Vertreter unserer letzten Kunstrichtun gen haben ihre Grundanschauungen auch auf die Schriftgestaltung angewandt und Thesen für eine elementare, zweckbetonte Typographie auf gestellt. Nach diesen soll der bisher mit zahl reichen Schriftarten arbeitende Setzer nun mehr ohne jede Zierform nur mit einer Schrift type im Steinschriftcharakter und mit den geo metrischen Formen: Viereck, Dreieck und Kreis, sowie mit fetten Linien seine Aufgaben lösen. Seit den ersten vom Dessauer Bauhaus aus gehenden Arbeiten haben sich die Anschauungen über das grundsätzlich Neue dieser Typographie wesentlich geklärt, und in praktischen Arbeiten sind ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Grenzen klar erkennbar geworden. Das zeigte in einem guten Querschnitt durch alle Arbeitsgebiete der neuen Typographie die Ausstellung in der Dresdner Staatlichen Kunstgewerbe-Bibliothek. Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß sich in dem Bekenntnis zur Sachlichkeit wertvolle Regun gen unseres gegenwärtigen Kunstwillens zei gen, der allem Historizismus abhold, der reinen Zweckform zustrebt. In jeder reformatorischen Idee liegt aber die Gefahr der Übertreibung, und auch die neue Typographie entgeht ihr nicht; sie kommt durch Übersteigerung des Grundgedankens zu subjektiv willkürlichen Neugestaltungen, die oft trotz aller theore tischen Zweckbetonung praktisch geradezu zweckwidrig sind. Die häufig und oft zur An wendung kommenden fetten Linien, Quadrate und Punkte entspringen ebenso wie früher die Renaissanceschnörkel einem irrationalen Form- willen. Wenn schon jede Dekoration abgelehnt werden soll, dann auch fort mit diesen nichts sagenden modischen Verlegenheitsformen, die in ihrer übertriebenen Anwendung das wert voll Grundsätzliche an der neuen Typographie verwischen und diese wieder zu einer rein for malen Angelegenheit machen. Auffallend ist bei allen Arbeiten die grund sätzliche Abkehr von einer symmetrischen An ordnung ; sie wird ersetzt durch einen asymme trischen Aufbau, der unserem Zeitgefühl besser zu entsprechen scheint und auch auf anderen Arbeitsgebieten, am deutlichsten in der neuen Architektur, zu sehen ist. Man bevorzugt dabei OGRAPHIE« ^ERBEBIBLIOTHEK (FEBRUAR-MÄRZ 1928) DRESDEN wieder den Blocksatz und vorwiegend den aus Großbuchstaben, was die Leserlichkeit nicht er leichtert und daher nur bei zwingenden, deko rativen Absichten empfohlen werden kann. Ob wir im fortlaufenden Textsatz einmal gänzlich mit dem Großschreiben der Hauptwörter auf hören, wie das in Dessau und auch anderwärts schon geschieht, läßt sich heute noch nicht Vor aussagen. Den Zweckmäßigkeitsgründen, die dafür sprechen, stehen auch andere gegenüber, die mit Recht gerade in der Verschiedenheit der Buchstabenform einen Gewinn für die Ein prägsamkeit der Wortbilder erblicken. Was an neuen konstruktivistischen Druck typen geboten wird, zeigt ohne Zweifel künst lerischen Fortschritt, bringt aber trotz gegentei liger Behauptung nichts wesentlich Neues. Die Formen dieser neuen Schriften fußen alle ohne Ausnahme auf die in jeder Gießerei seit über 50 Jahren vorhandene Allerweltsgrotesk, und es gehört schon die Naivität eines Nichtfach manns dazu, solche Drucktypen als etwas Un historisches, absolut Neues zu preisen. Genü gend wertvoll ist, daß „Erbargrotesk“ und „Fu- tura“ in ihrer übereinstimmend auf Normung gerichteten Tendenz die künstlerischen und wirtschaftlichen Forderungen für den heute er wünschten Steinschriftcharakter erfüllen. Das gleiche gilt von der „Kabel“ Kochs, obgleich sie bewußt nicht Normung, sondern weitestgehende individuelle Differenzierung erstrebt und damit die stärkeren künstlerischen Wirkungen ermöglich!. Bei der Beschränkung auf abstrakte Formen müssen die typographischen Arbeiten natur gemäß eine Gleichartigkeit des Ausdrucks zei gen, die von selbst nach größerer Abwechslung schon aus Zweckmäßigkeitsgründen drängt und erkennen läßt, daß der eingeschlagene Weg wieder nur einer neben anderen sein kann. Auch erfordert alles Arbeiten im Sinne der neuen typographischen Grundsätze ein außer ordentliches Können, wenn künstlerisch zu wertende Ergebnisse entstehen sollen, zumal die meisten unserer Schriften sich nicht eignen. Es ist wohl zu wünschen, daß die Einseitigkeit der Schriftform durch Verwendung weiterer ge eigneter Schriftcharaktere aufgehoben wird, was sicher erwartet werden darf. Für den Nach- 28