Volltext Seite (XML)
Eigenwille, der alles Kommandieren, auch in Schriftformen, ablehnt. Alle Anstrengungen aber der deutschen Schriftkiinstler, Schriftschneider und -Gießer können nicht die tiefgehende Wirkung haben, die sie verdienen, wenn nicht endlich die Liebe und das Verständnis für schöne Schrift in weite Kreise des deutschen Volkes eindringt. Hier sind noch schöne Aufgaben vom Schreiblehr- unterricht an den Volksschulen zu erfüllen. So lange im öffentlichen Verkehrsraum, an Stra ßen- und Firmenschildern, Hausinschriften, öffentlichen Anschlägen noch soviel Geschmack losigkeit sich breitmaeht, kann man noch nicht von einer Schriftkultur des deutschen Volkes sprechen. 50 JAHRE ULLSTEIN (1877—1927) Das ist ein Buch, das mehr bedeutet als eine Jubiläumsschrift im üblichen Sinne. Schon der Umfang von über 400 Seiten in Quartformat mit Hunderten von teils mehrfarbigen Abbil dungen spricht dafür. Doch auch inhaltlich greift der Band weit über den engen Rahmen einer Firmengeschichte hinaus. Wenn Deutsch land einmal eine richtige Hochschule des Jour nalismus bekommt, wie sie Amerika schon mehrfach besitzt, so ist dies „Ullsteinbuch“ ge eignet, dem Studenten einen umfassenden Ein blick in das Wesen der modernen Zeitung zu vermitteln. Leute vom Bau belehren darin, ohne zu dozieren, über Wesen, Ziel und Auf gabe der Zeitung. Der journalistische Schüler sieht hinein in den technischen Betrieb und wird nebenbei auf allerhand Gefahren auf merksam gemacht. Manches Lebensbild, auf die kürzeste Formel gebracht, zieht an ihm vor bei, er lernt verstehen, daß jede Zeitung ein Wesen für sich ist und demzufolge behandelt und auch verdaut werden muß. Wie verschie den sind sie, die drei Hauptzeitungen des Ver lages, die „Morgenpost“, die „B. Z. am Mittag“ und die „Vossisclie“, und doch dienen sie einem Grundgedanken: der demokratischen Entwick lung auf bürgerlich-kapitalistischer Basis. Es ist stets an der Ullsteinpresse gerühmt worden (oft sogar mit einem leis gehässigen Unterton), daß sie es verstehe, ihre Blätter schmackhaft zuzubereiten; der Leser werde, ohne daß er es recht merke, sanft in eine bestimmte Richtung gelenkt. Das Sensationsbedürfnis werde mit größter Sorgfalt gehegt und gepflegt, damit bloß kein Abonnentenschäflein verloren gehe. Hier spricht oft der Neid derer, die es auch gerne so machten, es aber aus Mangel an Talent unterlassen müssen. In diesem Buche bekom men wir manchen Einblick in diese Dinge, die ja nicht in einemGeheimnis, sondern in rastloser Arbeit, bisweilen auch in glücklich ausgewer teten Zufällen, gewiß aber auch in der voraus fühlenden Intuition einzelner Persönlichkeiten ihren Grund haben. Der junge Journalist würde aus dem Buche auch lernen können, daß der Erfolg einer Zeitung nicht allein vom Jour nalismus bestimmt wird, daß es auf neuartige Propaganda, auf neuartige Vertriebsmethoden und noch auf manches andere ankommt. Doch nicht nur der Journalist, auch der Reklamer kann hier lernen, mehr als in manchem Lehr buch — und nicht nur in dem Artikel von Paul Knoll, der das Anzeigenwesen des Ullstein hauses behandelt. Frühzeitig erkannte Ullstein den Wert der Reklame. Schon 1889 wurde das Erscheinen der damals neuen „Abendpost“ im Inseratenteil von etwa 200 Zeitungen bekannt gegeben. Dieser in jener Zeit — wenigstens in Deutschland—noch sehr seltenen Erkenntnis der Erfolgsmittel verdankt die Firma zu einem we sentlichen Teile ihren „amerikanischen“ Auf stieg. Doch darf man nicht vergessen, daß auch die genialste Propaganda schließlich im Sande verläuft, wenn sie nicht begleitet ist von einer angemessenen Vertriebsorganisation, und ge gründet auf Qualität der Leistung und einem wachsenden Bedürfnis des Volkes. Daß ein sol ches Buch auch manches interessante Streif licht auf die Politik vergangener Tage wirft, versteht sich fast von selbst, denn die Zeitungen sind es ja, die die Zeitereignisse berichten und sogar oft bestimmen. Das Abbildungsmaterial ist so reichhaltig, daß man es nur im großen ganzen werten kann. Das farbige Bildnis Leo pold Ullsteins, des Begründers der Firma, nach einem Gemälde von Oskar Begas aus dem Jahre 1882 ist ein Kulturdokument jener Zeit. Oskar Begas, obwohl seinerzeit als Porträtmaler sehr 25