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Dr. ALBERT GIESECKE RÜCKBLICK AUFDAS SCHRIFTSCHAFFEN DEUTSCHLANDS IN DEN LETZTEN 30 JAHREN .ALLJÄHRLICH, am Jahresende, findet man in den deutschen Fachzeitschriften des Graphi schen Gewerbes Rückblicke auf die Schöpfun gen auf dem Gebiete der Druckschriften. Dabei müssen die Verfasser anerkennend feststellen, daß Jahr um Jahr neue Schöpfungen aus den Schriftgießereien hervorgegangen sind, die ein Zeugnis dafür ablegen, wie rührig unsereSehrift- künstler und Schriftgießereien und wie bestrebt sie sind, dem Buchdrucker für alle möglichen Zwecke seines Berufes Schriften an die Hand zu geben, sowohl für den reinen Buchdruck wie für Katalogdruck, für Anzeigensatz und alle übrigen Arten des sogenannten Akzidenzsatzes. Nicht mit Unrecht haben einige dieser Bericht erstatter feststellen müssen, daß die Zahl der Neuschöpfungen weit den Bedarf überschreite, und daß die deutschen Buchdrucker in diesem Maße nicht aufnahmefähig für Schriftneuheiten sind, aber Schriftkünstler und Schriftgießer schaffen weiter. In der Tat: es ist eine Art Wett rennen, das hier vor sich geht, nicht nur in der Schnelligkeit des Herausarbeitens einer neuen Schrift, sondern auch in cler Wahl des Schrift- cliarakters sucht einer dem ändern vorauszu- kommen. Es ist fraglich, ob die Schnelligkeit, mit der solche Neuheiten an die Öffentlichkeit treten, immer mit cler Sorgfalt, mit der eine gute Buch- und Akzidenzschrift durchgearbeitet wer den müßte, in Einklang gebracht wurde. Was nun aber die Wahl der Schriftformen uncl Schriftarten anbelangt, so werden die einzelnen Schriftgießereien dabei von verschiedenen Ge sichtspunkten geleitet. Die einen streben dar nach, ihre Schriften so zu schneiden, daß sie im mer mehr dem Charakter der Handschriften, wie wir sie in den Büchern des Mittelalters bis zum 16. Jahrhundert finden, ähnlicher werden. Das Schriftbild soll also etwas Lebendiges er halten, etwas Bewegtes, und es wird dies nicht allein durch den bewegten Umriß des Schrift bildes, sondern auch dadurch erreicht, daß ein zelne Typen in zwei verschiedenen Breiten oder auch mehreren Formen geschnitten werden, ferner, daß mehr oder weniger verzierte Groß buchstaben abgefaßt werden, daß verzierte Schlußbuchstaben geschaffen werden u. dgl. Solche Ziele werden gewiß von jedem ge schmackvollen Buchdrucker, der einen fein aus geglichenen und doch lebendigen Satz anstrebt, begrüßt werden. Eine andere Richtung ver tritt die Auffassung, daß das Ideal der schö nen Schrift in der klassischen Form der Antiqua bereits vor mehr als 100 Jahren auf gerichtet wurde, und daß diese Schriftart kaum noch übertroffen werden könne. Hier schließen sich diejenigen an, die da meinen, daß die schönsten Schriften bereits von anderen Zeiten und Völ kern geschaffen wurden und wir nur aus die sem Schatz vergangener Zeiten zu schöpfen und gutes Alte wieder zu beleben hätten. Dieser Richtung haben wir das Aufleben gotischer Schriften, wie sie vor 100 Jahren in Deutschland und England zutage traten, zu verdanken, aber auch dasjenige französischer Lettern, wie sie das Zeitalter des Rokoko hervorgebracht hat, uncl nicht unbedeutende Gruppen deutscher Künstler haben sich ganz dem Kunstideal, wie es nach ihrer Auffassung das Zeitalter Guten bergs vertrat, in die Arme geworfen. Sie schrei ben am liebsten Schriften mit ganz breiten Fe dern, die wie in Holz geschnitzt wirken, mit denen sie ihrer zügellosen Phantasie Genüge tun. In der Anlehnung an den Stil des 15. Jahrhun derts hat insbesondere Rudolf Koch einige kraft volle deutsche Schriften geschaffen, die wir zu den schönsten Schöpfungen der letzten 20 Jahre rechnen. Das, was vor 50 Jahren schüchtern sich in Deutschland zu bilden begann, diese Renais sance der Schriftkultur des Mittelalters, die sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts dann zu einer frischen Blüte entfaltete, dieses neue und erfreuliche Wesen unserer Buchkunst, ist keineswegs im Abwelken begriffen, wenn auch vielleicht manche dieser Schößlinge dieser jun gen Pflanze etwas wild gewachsen sind. Es ist meineUberzeugung: auch jene neueSachlichkeit, die aller Kalligraphie und allem Schmuck abhold ist, jene Bewegung, die da lehrt, daß wir in einem nüchternen eisernen Zeitalter leben, und 19