II. Diskussion und Präsentation
1. Aufsätze und Vorträge – Peter Jessen
Bereits in den 1880er Jahren wurde in den damals neugegründeten kunst gewerblichen Zeitschriften die Situation des Buchgewerbes innerhalb der allgemeinen ›Krisis im Kunstgewerbe‹ thematisiert. Vor allem die Hebung des künstlerischen Niveaus der Buchgestaltung über das Studium der frühesten Drucke wurde gefordert. So mahnte 1882 der Verleger Max Huttler, ein Vertreter der ›Münchner Renaissance‹ (III.1–3), dass »nicht nur das Alte studiert werden« soll, sondern dass »unsere Kunstbuchdrucker […] mit der eigentlichen Kunst und wahren echten Künstlern wieder Hand in Hand zu gehen suchen müssen« (II.1). Diese vereinzelten, eher rückwärtsgewandten Versuche blieben jedoch weitgehend folgenlos. Entsprechend urteilte der Buchwissenschaftler Rudolf Kautzsch nach der Pariser Weltausstellung von 1900 ernüchtert über die Qualität der heimischen Buchkunst: »Auch wenn wir alles zusammennehmen, was überhaupt vorhanden ist: was bedeuten die Anstrengungen von fünf, sechs, oder meinetwegen auch zehn Verlegern und vielleicht ebensoviel Druckereien gegenüber der Sintflut der Gesamtproduktion! Diese bestimmt den Charakter des deutschen Buches. Und der lässt sich mit einem Wort bezeichnen: das deutsche Buch ist – billig.« (II.3)
Auf die indes um 1900 erkennbaren Potentiale weist später der Schrift gestalter Heinrich Wieynck hin: » Wir sind auf dem Wege zu einer Buchkunst, die ihr Ziel nicht in einer Häufung von Dekoration sieht, sondern eine planvolle Ausnutzung rein typographischer Mittel erstrebt und die den Buchinhalt weniger in einer gesucht individuellen als vielmehr in einer selbstverständlich erscheinenden künstlerischen Form darbietet.« (II.2)
Einer der leidenschaftlichsten Förderer der neuen Buchkunstbewegung war der Bibliothekar und Kunsthistoriker Peter Jessen. Er leitete von 1887 bis 1924 die Bibliothek des Berliner Kunstgewerbemuseums und erkannte schon sehr früh die entscheidende Bedeutung der englischen Pressen für die Entwicklung in Deutschland. Neben zahlreichen Vorträgen, in denen er, ausgehend vom Studium der Inkunabeln, für eine zeitgemäße, werkgerechte Buchgestaltung warb – Jessen war auch Mitbegründer des Deutschen Werkbundes –, organisierte er im Kunstgewerbemuseum bereits 1898 eine Ausstellung, die »den Buchdruck und die Buchdekoration der alten Meister sowie eine Auswahl der künstlerischen Versuche unseres Jahrhunderts« zeigt, darunter auch Drucke der Kelmscott Press, um »die Praktiker […], die Drucker, Verleger, Künstler und Kunstfreunde« mit diesen vertraut zu machen (II.5). Bereits wenige Jahre später zieht er mit einer weiteren Ausstellung, die »Beispielen neuerer Druck- und Buchkunst« vorbehalten ist, eine vorsichtig positive Bilanz der Entwicklung. (II.6)
2. Ausstellungen
Auf den Weltausstellungen im späten 19. Jahrhundert wurden dem deutschen Kunstgewerbe seine qualitativen und künstlerischen Defizite vor allem gegenüber den französischen und englischen Mitbewerbern deutlich vor Augen geführt. Das galt auch für die Pariser Weltausstellung im Jahr 1900, wovon der 1901 herausgegebene Sammelband ›Die Krisis im Kunstgewerbe‹ (II.3) Zeugnis ablegt. Ganz anders präsentierten sich jedoch die deutschen Aussteller in dem für die Pariser Leistungsschau herausgegebenen Katalog (II.7): Gesetzt aus einer eigens von Friedrich Schiller entworfenen ›neudeutschen‹ Schrift und ausgestattet mit Zeichnungen des jungen Bernhard Pankok, der auch die Drucklegung leitete, zeigte sich der Band gestalterisch auf der Höhe der Zeit.
Ein ähnlich hohes Niveau weist der vom Deutschen Buchgewerbeverein zu Leipzig speziell für die Deutsche Buchgewerbeausstellung in Paris herausgegebene Katalog auf (II.8). Hier lagen die künstlerische Leitung und die Ausführung des Buchschmucks in den Händen von Johannes Vincenz Cissarz (1873–1942). Auch die Gestaltung der Kataloge der folgenden Weltausstellungen 1904 in St. Louis (II.9) und 1906 in Mailand verantworteten Künstler, wie z. B. Peter Behrens.
Blieb dem deutschen Buchgewerbe in Paris noch die internationale Wertschätzung versagt, so hatte man den Abstand zur Weltspitze 14 Jahre später aufgeholt und wollte dies auch stolz der Weltöffentlichkeit zeigen: Anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Leipziger ›Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe‹ organisierte der ›Verein Deutscher Buchgewerbekünstler‹ 1914 ebendort die ›Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik‹ (BUGRA). Der eher funktional gestaltete Katalog (II.10) lässt nur bedingt den enormen Aufwand erkennen, der damals auf dem rund 40 ha großen Ausstellungsgelände am Fuße des Völkerschlachtdenkmals getrieben wurde. 22 Länder beteiligten sich an der Leistungsschau, mehr als 2300 inländische und mehrere Hundert ausländische Aussteller waren angemeldet. Das dynamische, von Walter Tiemann gestaltete Plakatmotiv der BUGRA, der fackelschwingende Genius der Buchkunst auf dem Buchdruckergreif (II.11), steht sinnbildhaft für das neue Selbstbewusstsein. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlitt die im Mai 1914 eröffnete Ausstellung einen herben Rückschlag. Bedeutende ›Buchländer‹ wie Frankreich und England zogen ihre Vertretungen ab, ein starker Besucherrückgang und ein erhebliches finanzielles Defizit waren u.a. die Folge.
3. ›Die graphischen Künste der Gegenwart‹
Bis etwa um 1800 unterschied sich die Ausstattung einer Druckerei und die Herstellung von Büchern nicht wesentlich von jener zur Zeit Gutenbergs: Es wurde nach wie vor im Handsatz gesetzt und die Bogen in der Handpresse gedruckt. Erst rund 350 Jahre nach Erfindung des Buchdrucks kam es zu tiefgreifenden Veränderungen im Druck und in der Satzherstellung, die den Weg zur industriellen Produktion und die Abkehr von der handwerklichen Fertigung unumkehrbar machten: Durch die maschinelle Papierherstellung seit etwa 1800 und die Einführung der Holzschliff- und Zellstofftechnologie um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine höhere Produktion von billigem Papier ermöglicht. Mit der Erfindung der Zylinderdruck-Schnellpresse 1811 durch Friedrich König begann die Industrialisierung des Drucks. Sie wurde gleichsam komplettiert zum einen durch die Beschleunigung und Mechanisierung der Satzherstellung durch die Erfindungen der Komplettgießmaschine für gebrauchsfertige Schriften und Setzmaschinen wie der Lino- und der Monotype in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum anderen kam es etwa durch die Erfindungen der Lithographie bzw. später der Farblithographie, der Heliogravüre und des Lichtdrucks für die Wiedergabe von Illustrationen sowie der Autotypie und Galvanoplastik (›Galvanos‹) für die Herstellung von Klischees (Druckstöcken) für Halbtonbilder zu wesentlichen Verbesserungen der Bilddruckverfahren und Reproduktionstechniken. Um einen Überblick über den damals aktuellen Stand der verschiedenen druckgraphischen Techniken zu geben, veröffentlichte der Stuttgarter Verlag Felix Krais 1885, 1902 und 1910 umfangreiche, aufwendig hergestellte und durch die zahlreichen beigehefteten Werbe- und Musterbeilagen reich illustrierte Prachtbände. Die ausführlichen Texte etwa zur Papierherstellung, zum Schriftguss oder zur Druckund Reproduktionstechnik wurden in den ersten beiden Bänden noch allein von dem Buchdrucker und Fachautor Theodor Goebel (1829–1916) verfasst. Der dritte Band hingegen wurde von Ludwig Volkmann (1870–1947), dem damaligen Vorsitzenden des Deutschen Buchgewerbevereins und Organisationsleiter der BUGRA (II.10–11) herausgegeben. Ihm gelang es, für die Beiträge jeweils führende Autoritäten zu gewinnen, so etwa für die Kapitel über Buchdruck, Schrift und Schriftguss Friedrich Bauer und für jenes über ›Zeitgemäße Satzherstellung‹ Carl Ernst Poeschel. Den letzten Band zeichnet zudem die Berücksichtigung der aktuellen buchkünstlerischen Tendenzen aus: Zum einen wurden Einbanddecke und Vorsatzpapier von Johann Vincenz Cissarz (vgl. II.8) gestaltet und als Schrift die erst zwei Jahre alte Behrens-Antiqua gewählt, zum anderen geht im letzten Kapitel Hans Loubier ausführlich auf ›Die neue Buchkunst‹ und ihre Vertreter ein.
4. Publikationen zur ›Neuen Buchkunst‹ und den ›Privatpressen‹
Durch die neue Zusammenarbeit von Künstlern mit Schriftgießereien, Druckereien und Verlagen zeichnete sich seit der Jahrhundertwende ein Wandel innerhalb des deutschen Buchgewerbes ab, der nicht nur in Fachzeitschriften gewürdigt wurde, sondern auch in Büchern. Bereits 1901 befasste sich der Kunsthistoriker und Journalist Otto Grautoff in seiner Monographie ›Die Entwicklung der modernen Buchkunst in Deutschland‹ (II.16) ausführlich mit den Änderungen. Sein Augenmerk liegt indes noch auf der Buchillustration, allerdings beschreibt er auch das »trostlose und beschämende Bild« der vorangegangenen Jahrzehnte und geht auf die ausländischen Anregungen etwa aus England ein. Ein Jahr später erschien der von Rudolf Kautzsch, Leiter des Deutschen Buchgewerbemuseums in Leipzig, herausgegebene Band ›Die Neue Buchkunst‹ (II.17), der einen Überblick über die internationale Buchkunst zu geben versucht. Auch die Gestaltung des Buches, das aus der Behrens-Schrift gesetzt ist und von Poeschel & Trepte gedruckt wurde, spiegelt die aktuellen Tendenzen.
Der Erste Weltkrieg bedeutete keine wesentlich Zäsur in der Entwicklung der deutschen Buchkunst. Im Gegenteil. In den 1920er Jahren kam es zu einer Blütezeit, an der auch die ›Privatpressen‹ teilhatten. Nicht selten wurden deren Titel aufgrund der niedrigen Auflagenhöhe zu Spekulationsobjekten. In dieser Zeit erschienen grundlegende Publikationen wie die Monographie von Hans Loubier, Mitarbeiter Peter Jessens an der Staatlichen Kunstbibliothek in Berlin (II.18), die Bibliographie des Bibliothekars Julius Rosenberg (II.21) oder Sonderausgaben von Zeitschriften (II.20).
5. Buchkünstler und Drucker melden sich zu Wort
Neben Wissenschaftlern und Fachjournalisten haben sich auch Buchkünstler und -gestalter, Schriftgestalter oder Drucker, publizistisch mit den Entwicklungen im Buchgewerbe auseinandergesetzt. Zu den Schlüsselfiguren der Bewegung zählt Fritz Helmuth Ehmcke (1978–1965). Unmittelbar nach seinem Studium gehörte er 1900 zu den Mitbegründern der Steglitzer Werkstatt in Berlin (III.28–30), und 1914 rief er in München die Rupprecht-Presse ins Leben (IV.26–30). Zudem lehrte er an den Kunstgewerbeschulen in Düsseldorf, München und Zürich. Auch wenn er als Lehrer nicht so schulbildend wirkte wie etwa Walter Tiemann in Leipzig oder Rudolf Koch in Offenbach, so nahm er durch seine zahlreichen Schüler, unter anderem F. H. Ernst Schneidler (V.21–25), seine Arbeiten als Schriftgestalter und Buchkünstler sowie nicht zuletzt auch durch seine zahlreichen Publikationen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Buchkunst. In dem 1916 veröffentlichten Aufsatz ›Alte Ziele, neue Wege‹ zieht Ehmcke eine Bilanz seines Schriftunterrichts in München und präsentiert zahlreiche Arbeiten seiner Schüler (II.23). Einen Überblick über die verschiedenen Phasen des Buchgewerbes bietet seine Monographie ›Drei Jahrzehnte Deutscher Buchkunst 1890–1920‹ (II.22). In der grundlegend neubearbeiteten Ausgabe von 1933 (II.24) befasst er sich auch mit den Änderungen in den 20er Jahren, die u.a. durch das Bauhaus und die ›Elementare Typographie‹ Jan Tschicholds angestoßen wurden.
Eine weitere zentrale Persönlichkeit ist der Leipziger Drucker und Verleger Carl Ernst Poeschel (1874–1944). Nach dem Studium der Kunstgeschichte und Architektur, einer Studienreise in die USA und der Ausbildung als Buchdrucker wurde er 1906 Teilhaber der väterlichen Druckerei Poeschel & Trepte, die damals zu den besten Druckereien gehörte. Von prägender Bedeutung für sein weiteres typographisches Schaffen war eine Englandreise 1904, auf der er Kontakte mit führenden Vertretern der englischen Schrift- und Buchkunst knüpfte, wie Edward Johnston und Emery Walker. Unter dem Einfluss ist auch die Gründung der Janus-Presse 1907 (IV.1–4) zusammen mit Walter Tiemann zu sehen. Zudem leitete er 1905 zusammen mit Anton Kippenberg den für die Buchkunstbewegung wichtigen Insel-Verlag (III.22–27), 1909 war er Mitbegründer des Tempel-Verlags (III.21). Gleichwertig neben seinem Wirken als Verleger und Drucker steht seine praktische und pädagogische Arbeit für eine moderne funktionale Typographie. Wegweisend ist v.a. seine kleine, 1904 erschienene Schrift ›Zeitgemäße Buchdruckerkunst‹ (II.25), die 1989 mit einer Würdigung von H. P. Willberg nachgedruckt wurde (II.26) und zu der Hans Loubier schreibt: »Ich bedauere, dass er dieses Büchlein, das natürlich schnell vergriffen war, nicht neu aufgelegt hat; denn es wäre zu wünschen, dass jeder, der mit Drucken zu tun hat, dieses Vademecum stets zur Hand haben könnte.«
6. Renner und die Futura
Zu den wichtigsten Exponenten der modernen Typographie gehört der Buch- und Schriftkünstler Paul Renner (1878–1956). Mit ihm eröffnet sich die Perspektive in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Nach seiner Tätigkeit als künstlerischer Leiter des Georg Müller Verlages wurde Renner 1927 Gründungsdirektor der Meisterschule für Deutschlands Buchdrucker in München. Renners frühe Arbeiten zeigen ihn zwar als erstklassigen Gestalter, typographisch bleiben sie aber konventionell – sein 1922 erschienenes Buch ›Typographie als Kunst‹, in dem er sich mit der Bedeutung des Künstlers für die Buchgestaltung, mit der Schriftgeschichte und typographischen Regeln befasst, wurde noch in der klassizistischen Unger-Fraktur gesetzt (II.28). Mit seinen ersten Entwürfen ab 1924 zu einer so der Auftragstitel ›Schrift unserer Zeit‹, erfolgte jedoch eine grundlegende Wende. Renners Entwurfskonzept der 1926 unter dem Namen ›Futura‹ veröffentlichten Schrift (II.30) widerspricht der traditionellen Vorgehensweise, Druckschriften aus der Schreibschrift heraus zu gestalten. Er konstruierte die ›Futura‹ anhand der geometrischen Grundformen Kreis, Dreieck und Quadrat, in enger Anlehnung an antike römische Inschriften, wobei seine Entwürfe von der Bauerschen Gießerei später etwas modifiziert wurden, um die Lesbarkeit und damit auch die Verkaufschancen der Schrift zu erhöhen. Ihr Erfolg war durchschlagend, sie wurde zu einer der meistverkauften Schriften des 20. Jahrhunderts, auch wenn sie bis heute vor allem im Akzidenz- und Werbedruck verwendet wird und eher selten, wie etwa für Renners grundlegendes Lehrbuch (II.29), in der Buchgestaltung. Ihre Bedeutung für die moderne Typographie würdigten zuletzt Ausstellungen in Frankfurt a.M. und Mainz (II.31–32).