Wunderkammer. Pflegestätte der Reklamekunst

1924 wurde die Gebrauchsgraphik in Berlin gegründet und bereits im Folgejahr veröffentlichte der Herausgeber stolz eine Weltkarte, die die internationale Verbreitung dokumentierte. Die Gebrauchsgraphik entwickelte sich schnell zum führenden Fachmagazin für Grafikdesign und wurde über die Landesgrenzen hinaus als Inspirationsquelle geschätzt. Patrick Rössler ist Professor für Empirische Kommunikationsforschung/ Methoden an der Universität Erfurt und die visuellen Kommunikationsmedien der zwanziger und dreißiger Jahre gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten. Wir sprachen mit ihm über die Bedeutung und die Rolle der Gebrauchsgraphik, jener Zeitschrift, die mit novum zwar einen neuen Namen erhalten hat, sich ansonsten aber in neunzig Jahren erstaunlich treu blieb.

Heute gilt es als innovativ und wirtschaftlich sinnvoll, in gutes Design zu investieren. Doch diese Überlegung war schon vor 90 Jahren aktuell und leitete Hermann Karl Frenzel, als er 1924 die Gebrauchsgraphik ins Leben rief. Was war das Besondere an der Gebrauchsgraphik, was hob sie von anderen Kunst- und Fachzeitschriften jener Zeit ab?

Nach dem Scheitern von Das Plakat im Jahr 1921 war der Markt für Fachzeitschriften der Druck- und Werbebranche weitgehend verwaist. Seidels Reklame beispielsweise publizierte 1923, im Jahr der Hyperinflation, gerade mal ein Heft (wenn auch ein bemerkenswertes: das über Wilhelm Deffke). Nach der Konsolidierung der deutschen Wirtschaft war es höchste Zeit für ein breit orientiertes Magazin, das unabhängig von Verbandsinteressen oder einzelnen Unternehmen über die boomende Branche berichtete. Die Gebrauchsgraphik erfüllte damit sicher auch eine Orientierungsfunktion in einem wachsenden und immer unübersichtlicher werdenden Dienstleistungssektor. Ihren Status als Leitmedium, das die maßgeblichen Personen und Trends vorstellte, konnte ihr selbst die vierzehntägig erscheinende Reklame nie streitig machen.

Welchen Einfluß hatte die Gebrauchsgraphik auf die Entwicklung des Kommunikationsdesigns beziehungsweise auf das Berufsbild des Grafikers?

Wenn man ganz ehrlich ist, hatte die Zeitschrift wohl keinen direkten Einfluß – oder nur einen geringen, jenseits der Tatsache, daß immer wieder Hefte aus aufgelösten Grafikateliers auftauchen, wo man den zahlreichen Ausschnitten entnehmen kann, daß die Abbildungen gerne als Vorlagen für die eigene Arbeit genutzt wurden. Aber in der Gebrauchsgraphik der Zwischenkriegszeit finden, anders als in der novum heute, kaum echte Fachdiskussionen über das Kommunikationsdesign statt, es gibt nur ausnahmsweise Auseinandersetzungen um kontroverse Streitfragen oder eine Gegenüberstellung divergierender Meinungen. Sie war auch niemals ein Forum der Avantgarde, die Einstellung zu typografischen Experimenten und innovativen künstlerischen Bewegungen blieb stets kritisch-distanziert. Die Zeitschrift lebte von den opulent illustrierten Portfolios zu einzelnen Künstlern oder Themen und hier konnte die Wirkung ganz enorm sein: Wenn man als Werbegrafiker mit seinen Arbeiten in der Gebrauchsgraphik auf mehreren Seiten in bester Abbildungsqualität vorgestellt wurde, beförderte das die eigene Auftragslage ganz ungemein. Und natürlich ist denkbar, daß auf diese Weise auch indirekt ein Berufsbild vermittelt wurde, das sich an den Auffassungen der prominenten Reklamekünstler orientierte.

Schaut man sich alte Gebrauchsgraphik-Titel an, so ist man oft überrascht, wie modern sie wirken. Und das, obwohl Frenzel kein Verfechter der Avantgarde war. Woran liegt es, daß die Zeitschrift so frisch wirkt und sich von anderen Publikationen der Zeit abhebt?

Wie bei manch einer Zeitschrift jener Jahre stehen die Umschläge gerade nicht repräsentativ für die Inhalte – schließlich ist es auch bei der Gebrauchsgraphik die Regel, daß die Titelgestalter nicht zwingend mit Beiträgen im Heft vertreten sein müssen. Der Umschlag galt als Aushängeschild eines Printmediums und entsprechend wurden für seine Entwürfe oft weder Kosten noch Mühen gescheut, um die Besten ihres Fachs dafür zu gewinnen. Mit Blick auf die Innenseiten resultiert der moderne Eindruck sicher maßgeblich aus der Verwendung der Futura, die ab 1930 als Standardtype für die redaktionellen Beiträge eingeführt wurde, und an dem asymmetrischen Doppelseiten-Layout – obwohl die Gebrauchsgraphik der Neuen Typographie eigentlich eher skeptisch gegenüberstand.

Schon 1925 wurde die Gebrauchsgraphik aufgrund des starken Interesses aus dem Ausland zweisprachig (deutsch/ englisch). War das bei Zeitschriften damals üblich? Und welche Bedeutung hatte die Gebrauchsgraphik im Ausland?

Der Schritt in die Zweisprachigkeit war ungewöhnlich und mutig, keine Frage – aber er war nur konsequent: Denn zum einen galten die USA (und auf diesen Absatzmarkt zielte Frenzel primär) als das Mutterland der Werbung und des kommerziellen Grafikdesigns, andererseits war dort der künstlerische Anspruch an die Werbegestaltungen bis weit in die dreißiger Jahre hinein eher gering. Selbst die Gebrauchsgraphik mit ihrer gebremsten Modernität wurde dort schon als avantgardistisch wahrgenommen. Sie wurde zu einer willkommenen Inspirationsquelle ohne ernsthafte Konkurrenz, denn schließlich kam mit Advertising Arts, einer nach Muster der Gebrauchsgraphik konzipierten Beilage zu Advertising & Selling, erst 1930 ein eigenes amerikanisches Magazin auf den Markt, das aber deutlich national orientiert war und (anders als ihr Vorbild) die internationalen Trends der Branche kaum abbildete. Und wie heute galt schon damals: Die Neigung der Amerikaner, sich andere Sprachen anzueignen, ist eher gering ausgeprägt, weshalb die Übersetzung der Texte ins Englische tatsächlich den entscheidenden Schritt zum internationalen Erfolg darstellte!

Die Gebrauchsgraphik hatte ihre Anfänge in einer politisch bewegten Zeit. Waren die Zeitschrift und ihr Herausgeber selbst auch politisch engagiert? Welche Rolle spielte die Gebrauchsgraphik im Nationalsozialismus?

Hermann Frenzel war immer von dem Gedanken beseelt, durch eine internationale Werbegemeinschaft zu Frieden und Völkerverständigung beitragen zu können. Selbst parteipolitisch unverdächtig, hielt er die ideologischen Grabenkämpfe aus seiner Zeitschrift weitgehend heraus, so daß die damals allgegenwärtigen Propaganda- und Wahlplakate sogar einen unverhältnismäßig geringen Anteil ausmachen. Nach 1933 erfaßte die sogenannte Gleichschaltung unvermeidlich auch die Gebrauchsgraphik – und am ehesten schlug sich das wohl darin nieder, daß jüdische Künstler wie Steiner-Prag oder Salter nun nicht mehr vertreten waren. Die inhaltlichen und ästhetischen Konzessionen an die Machthaber blieben aus heutiger Sicht in einem vertretbaren Rahmen, ohne daß man die Zeitschrift freilich als einen Hort des Widerstands bezeichnen könnte: Auch Portfolios über Man Ray (1934) und den Ex-Bauhäusler Herbert Bayer (1936 und 1938) fügten sich nahtlos in die Strategie einer »Vielfalt in der Gleichschaltung« ein, mit der der nationalsozialistische Führerstaat gerade auch dem Ausland einen längst nicht mehr existenten Pluralismus vorgaukeln wollte. Bayers stark surrealistisch inspirierter Umschlag für das Oktoberheft 1938, das erst nach seiner Emigration in die USA erschien, ist ein Paradebeispiel für eine überraschende, kaum mehr denkbare Modernität.

Wenn Sie sich die lange Geschichte der Gebrauchsgraphik/ novum ansehen, was begeistert oder erstaunt Sie am meisten?

Als Kommunikationswissenschaftler beobachte ich schon seit einer Weile den sich ständig beschleunigenden Medienwandel. An der Gebrauchsgraphik/ novum ist bemerkenswert, daß sie einerseits diesen Medienwandel in ihren Inhalten trefflich reflektiert und mit ihren Themen am Puls der Zeit ist – aber selbst auf Kontinuität setzt und sich nicht permanent neu erfindet, sondern die Trends selbst eher behutsam umsetzt. Manche mögen das für konservativ halten, ich hingegen schätze dieses Traditionsbewußtsein überaus.

// Quelle

Ein Interview von Christine Moosmann mit dem Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Patrik Rössler, in: novum. World of Graphik Design, Heft 6 (2014), S. 10-17

Abbildung 2 | Gebrauchsgraphik, Heft 2, 3. Jahrgang (1926), Umschlag zum Beitrag über das Atelier Rosen, der die transatlantische Achse im Grafikdesign verdeutlicht und damit auch sinnbildlich für die internationale Orientierung der Gebrauchsgraphik steht

Abbildung 4 | Gebrauchsgraphik, Heft 12, 5. Jahrgang (1928), Titelgrafik: Max Bittrof